Ein homo literatus, ein Schriftkundiger zu sein, das war im Mittelalter schon etwas ganz Besonderes und man konnte selbst von gekrönten Häuptern Lesen und Schreiben nicht unbedingt erwarten. Der römisch-deutsche Kaiser Konrad II. (gestorben 1037) konnte es zum Beispiel nicht und galt daher auch als rex idiota. Wissen wurde im Mittelalter fast ausschließlich in den Klosterschulen weiter gegeben und war an das gleichzeitige Studium der lateinischen Sprache geknüpft. Es dauerte Jahrhunderte, bis man auf die Idee kam, auch die Volkssprache in lateinischen Buchstaben aufzuzeichnen.
In den Klosterschulen fanden sich oft auch Nachkommen mächtiger Familien. Da die meisten von ihnen aber Mönche oder Nonnen wurden, waren Schriftkundige außerhalb der Klöster dünn gesät. Allerdings wurde natürlich von Konrad II. und seinen Standesgenossen erwartet, dass sie herrscherliche Urkunden ausstellten: Deshalb hielt sich ein fürstlicher Hof immer einen Schriftkundigen cancellarius. Ein Begriff aus dem sich das Wort Kanzler entwickelte.
So ein Kanzler stand in hohem Ansehen – damals jedenfalls. Wer sich keine eigene Kanzlei leisten konnte, konnte in den großen Städten zu einem öffentlichen Schreiber gehen. Im späten Mittelalter wurde dann vor allem auch von Kaufleuten erwartet, dass sie lesen und schreiben konnten. Bis dahin wurden Schriftkundige immer auch misstrauisch beäugt: Schließlich konnte niemand so recht sagen, was sie da denn wirklich aufzeichneten. Der Mönch Gerbert von Aurillac, einer der brillantesten Schriftgelehrten des Mittelalters, stand aufgrund seiner Forschungen im Ruf, ein übler Magier zu sein. Und er wurde als Silvester II. immerhin Papst.
Magister Stephan M. Rother
Der Schriftgelehrte im LARP
"Gestattet, dass ich mich vorstelle: Lyanna Harte ist mein Name. Ich bin die Erste Geschichtsschreiberin des Kingdom of Pentra. Wenn’s genehm ist, würde ich Euch gerne ein paar Fragen zu den seltsamen Vorfällen hier stellen. Stimmt es, dass ..."
So oder ähnlich kann es klingen, wenn ein Schreiber – oder in diesem Fall eine Schreiberin – auf einem LARP-Con auftaucht. Idealerweise ist ein Schreiber immer dort, wo gerade etwas Wichtiges geschieht, ob auf dem Schlachtfeld, im Dungeon, beim Ritual oder zufällig in Hörreichweite einer wichtigen Besprechung. Mit Stift und Notizbuch in der Hand notiert er alles, was in seinen Augen wert ist, für die Nachwelt festgehalten zu werden. Mittag- oder Abendessen muss da schon mal zurückstehen, wenn sich wichtige Ereignisse anbahnen, denn: ein Schreiber ist eigentlich immer im Dienst.
Sozusagen eine Art rasender Schreiberling. Er ist eine ideale Rolle für diejenigen, denen das Kämpfen mit LARP-Waffen nicht liegt, die aber auch keine Lust haben, ein halbes Dutzend Beutelchen mit Magie-Komponenten durch die Gegend zu schleppen, und die vor allem soviel wie möglich vom Plot mitbekommen wollen. Es gibt jedoch auch weitaus mehr spielbare Arten von Schriftgelehrten.
Mönche und Nonnen
Wie bereits in der historischen Einleitung beschrieben, waren die meisten mittelalterlichen Schriftgelehrten im Kloster anzutreffen. Solche können im LARP als Ausgesandte eines Ordens die Welt erkunden und alles Wichtige dokumentieren, sollten jedoch keine Abenteurer-Figur darstellen. Nur selten werden sie in den Schlachtreihen anzutreffen sein, sondern eher an ruhigen Orten in Gesprächen mit den Einheimischen oder den anderen meist weit gereisten Gestalten ihr Wissen erweitern.
Kanzler
In Ländern, die mit dem Phänomen der Bürokratie vertraut sind, ist meist auch ein Kanzler anzutreffen. Er kümmert sich darum, dass alle Einreisenden ihre Formulare erhalten: Aufenthaltsgenehmigungen, Passierscheine für das Gefolge, Adelsbestätigungen und was die Bürokratie sich sonst noch alles ausdenkt. Gleiches gibt es auch in den Diensten eines adligen oder sonstigen wohlhabenden Herrn, der zu wenig Zeit dafür hat oder zu wenig schriftkundig ist. Für ihn werden Verträge, Urkunden und sonstige Schriftstücke verfasst, die der Herr dann nur noch zu unter- zeichnen braucht.
Diese Rollen sind im LARP meist als dauerhafte NSC-Charaktere des bespielten Landes anzutreffen, doch kann dies auch sehr großen Spaß machen: wer putzt nicht gerne mal den Baron von und zu herunter, weil er sich seiner Papiere hat entledigen lassen?
Chronisten
Chronisten stehen ähnlich den Kanzlern meist im Dienste eines Landes oder einer Gruppe. Sie sorgen dafür, dass deren Geschichte niedergeschrieben wird und damit der Nachwelt erhalten bleibt. Als Schreiber vor Ort stecken sie oft mitten im Getümmel und müssen zuweilen rennen oder Haken schlagen wie ein Hase, wenn die Gefahr mal statt hinter den Helden hinter ihnen her sein sollte, ob in Form eines Goblins, eines bösen Magiers oder eines feindlichen Kriegers.
So lange es einem Chronisten gelingt, solche Begegnungen zu überleben, wird er hartnäckig hinter den wichtigen Ereignissen bezüglich seines Goldgebers herjagen, um dessen große Taten aufzeichnen zu können. Dies ist die wohl aktivste Form des Schriftgelehrten und für Spieler am besten geeignet. Solche Charaktere können selbstverständlich auch freiberuflich unterwegs sein...
Künstler
Dichter, Denker und Poeten schreiben Romane, Liebesbriefe, Lieder, Gedichtbände oder philosophische Abhandlungen. Diese sind insbesondere als Spieler anzutreffen und erfreuen sich entweder hoher Beliebtheit in der Taverne und am Lagerfeuer oder sitzen irgendwann gefesselt und geknebelt auf einer Astgabel. Sie sollten möglichst nicht nur schreiben, sondern das Geschriebene auch gekonnt wiedergeben können.
Magier
Auch von Magiern, Alchimisten und sonstigen magischen Gelehrten wird die Kunst des Lesens und Schreibens erwartet. Sie können im Sinne des Gelehrtentums dem Bereich der Mönche zugeordnet werden, da sie ebenso ihr Wissen für eine Akademie oder sich selbst sammeln und niederschreiben. Sie stellen die LARP-tauglichere Fantasy-Variante des schriftgelehrten Mönches dar.
Andere Schriftgelehrte
Es gibt gewiss noch eine ungewisse Anzahl weiterer Schriftgelehrter. Dazu gehören im LARP leider fast alle Spielercharaktere wie Abenteurer, Krieger und Barbaren. Auch Mischformen der oben genannten Typen sind möglich – ein Chronist kann zum Beispiel durchaus auch ein Künstler sein, was das Nacherzählen seiner Berichte angeht.
Darstellung eines Schriftgelehrten
Je nachdem, welche Art der oben aufgeführten Schriftgelehrten dargestellt werden soll, variiert die Spielweise sehr. Nachfolgend wird vorwiegend auf den Chronisten eingegangen, der sehr aktiv mit dem Geschehen verbunden ist.
Wer seine Rolle besonders ernst nimmt, kann vor lauter wichtigen Ereignissen auch mal das doch so leckere Essen verpassen. Wer sie zu wenig ernst nimmt, verpasst wahrscheinlich die Hälfte des Plots. Die ideale Zwischenlösung sollte jeder für sich selbst finden. Chronisten sollten aber auf jeden Fall immer alles mitschreiben, egal ob für ein Land oder eine bestimmte Gruppe. Man weiß nie, ob es sich später nicht als wichtig erweisen wird.
Ein Chronist kann so manche Situation dadurch retten, dass er durch sein fleißiges Mitschreiben genau über die Information verfügt, mit der ein böser Dämon zur Strecke gebracht werden kann. Wichtig ist auch, sich alle Namen von Personen zu notieren, mit denen Kontakt gepflegt wird oder die Informationen liefern. Es ist dabei unwichtig, wie ein Name richtig geschrieben wird, da die meisten ohnehin nicht lesen können. Und wenn es In-Time doch wichtig ist, so kann auch In-Time höflich gefragt werden.
Ein guter Chronist ist fast ständig mit Papier und Feder in der Hand anzutreffen. Natürlich kann man sich jederzeit In-Time hinsetzen und die Notizen in sein Buch übertragen, so lange die Erinnerungen noch frisch sind. Das gehört ja schließlich zur Arbeit dazu. Doch zu viel Ruhe kann sich ein Chronist auch nicht leisten. Wenn es auf dem Schlachtfeld heiß her geht, sollte ein Chronist mit einer gewissen Furchtlosigkeit möglichst mitten drin sein. Natürlich ist es auf und gleich neben dem Schlachtfeld gefährlich, doch für die Chronik des Heimatlandes ist es schließlich wichtig zu erfahren, ob und wann und wie genau der gute Graf von Zghul verstorben ist – schon alleine, um die Nachfolge zu regeln.
Er sollte auch nicht zögern, in eine Gruft oder sonstigen Dungeon zu gehen, nur weil es dort gefährlich sein könnte. Der gewitzte Chronist hängt sich an eine Gruppe starker Krieger und hält sich im Hintergrund, bis sie alle Hindernisse aus dem Weg geräumt haben. Im Zweifelsfall ist ein guter Chronist sowieso viel zu neugierig, um nicht aus erster Hand zu erfahren, was denn da los ist: Neugier ist nicht nur der Katze, sondern auch des Schreibers Tod., was ihn dann nicht unbedingt allzu sehr stört, weil er ganz genau weiß, dass er durch sein Werk eine gewisse Unsterblichkeit erlangen wird.
Traum vieler Chronisten ist es, DIE Chronik seines Heimatlandes zu schreiben – ein Werk, von dem man noch in Jahrhunderten reden wird! Und sollte man wider Erwarten doch überleben, dann kann man immer noch seinen Enkeln von seinen Abenteuern erzählen!
Vorteile
Die Grundausrüstung ist relativ einfach zu bekommen und Anfänger brauchen sich nicht zu sehr mit Magie- oder Kampfregeln herum zu schlagen, weil ein Chronist ohnehin nur beobachtet und aufschreibt. Ab einem gewissen Bekanntheitsgrad kommt es vor, dass Informationen nicht nachgejagt werden muss – es kommen plötzlich alle auf einen zu und teilen mit, was sie gerade Neues herausgefunden haben! Wenn diese Bekanntheit noch nicht erreicht ist, sollte sich der Schreiber eine nicht abgeneigte, möglichst wichtige Gruppe suchen und mit denen losmarschieren. Eine eigene Gruppe ist daher nicht notwendig.
Ein Schreiber kann auch eine ganz persönliche Chronik schreiben oder sich der Bibliothek widmen, um die wichtigsten Rätsel des Plots zu lösen. Die damit verbundene Macht eines Schreibers sollte niemals unterschätzt werden. Wer kann sich nach ein paar hundert Jahren noch erinnern, was genau vorgefallen ist, wenn er nicht zum Buch greift und den Bericht des Schreibers liest, der damals dabei gewesen ist?
Nachteile
Als Schreiber wird man nur äußerst selten der ganz große Held sein, der den bösen Drachen, Magier, Dämonen oder was auch immer niederstreckt, auch wenn man die Lösung dazu geboten hat. Schreiber schreiben, wofür sind denn schließlich die Helden da? Ein Schreiber steckt also in einer etwas passiven Rolle, auch wenn er mehr als genug Action mitbekommen kann. Für wichtige Informationen müssen auch mal das Essen oder die Nachtruhe entfallen. Ein Chronist muss auch mal riskieren, von einem Dämonen – oder sonstigen Monster – getötet zu werden, weil er zu dicht rangekommen ist, als der Gesundheit dienlich ist... oder weil er eine Frage zu viel gestellt hat!?
Ausrüstung
In-Time-Kleidung natürlich, ganz abhängig von der Art des Schreibers. Je offizieller desto prunkvoller. Doch der Anspruch an die Gewandung ist bei weitem nicht so ausschlaggebend wie bei vielen anderen Charakteren, zum Beispiel bei Magiern. Für einen gewöhnlichen Schreiber reichen Hose und Hemd, für die nächtliche Berichterstattung auch etwas Warmes, ein Umhang und LARP-taugliche Schuhe.
Wichtig sind jedoch ambientetaugliche Schreibutensilien! Für das erste Mal genügt ein Notizbuch in unauffälliger Farbe und ein Stift zum Schreiben (möglichst aus Holz). Wenn möglich, sollten dann aber Pergament, Feder und Tinte zugelegt werden, sowie ein Buch, in dem alles zusammengefasst wird. In einem Gürtelbeutel können dann die Schreibutensilien untergebracht werden! Wer den Schreiber länger spielen möchte, sollte sich auch eine besondere Ausrüstung anschaffen. Federhalter gibt es viele, von ganz einfachen aus Holz bis hin zu wirklich schönen Stücken aus Metall oder sogar mit einer richtigen (Vogel-)Feder.
Das ist Geschmackssache. Dazu dann noch ein Satz Schreibfedern mit verschiedenen Spitzen: spitz zulaufend für dünne Striche, angeschrägt für breitere oder für Urkunden und andere Dokumente. Dazu ein Tintenfass, Tinte oder Tusche sowie Papier im Pergament- oder Büttenpapierlook, also Papier, das irgendwie alt aussieht. Auch das ist Geschmackssache. Auch ein Satz feinere Kleidung für besondere Anlässe kann dazu gehören oder – sollte der Schreiber dem Adel angehören – dem Stand angemessene Kleidung. Als Schreibunterlagen haben sich schon vielfach hölzerne Klapptische und -stühle bewährt.
Alle weiteren Utensilien sind sehr vom Charaktertyp abhängig: ist es der magisch begabte Schreiber, der des Kämpfens mächtige Abenteurer, oder benötigt er ein Gewand seines Ordens!? Der Fantasie ist dabei keine Grenze gesetzt. Zumindest eine LARP-Waffe (Dolch, Kurzschwert, Kampfstab) und Leder-Armschienen sollte jedoch fast jeder mit sich führen, denn auch Schreiber müssen sich gelegentlich ihrer Haut wehren können, und sei es nur, weil der Ritter Adalbert mit dem Bericht über seinen peinlichen Sturz vom Pferd nicht allzu erfreut war...
Fertigkeiten
Auch das hängt stark davon ab, welcher Schreibertyp gewählt wird. Wichtig sind Lesen und Schreiben in möglichst vielen Sprachen, sowie Heraldik und die Entwicklung von Wissensfertigkeiten. Kämpfen und viele andere Abenteurerfertigkeiten sollten eher nebensächlich sein. Auf jeden Fall sollte der Spieler Out-Time üben, mit Feder und Tinte zu schreiben. Denn es kann eine Weile dauern, sich an die Feder zu gewöhnen und heraus zu bekommen, wann neue Tinte nachgefasst werden muss, damit die Schrift gleichmäßig schwarz, braun, blau oder welche Farbe auch immer wird. Wer In-Time damit Geld verdienen will, dass er Urkunden, Verträge und ähnliches verfasst, sollte sich außerdem mit Kalligraphie befassen: das Ganze soll ja schließlich gut aussehen, nicht wahr?
Birgit Schindlbeck
Anmerkung der Redaktion
Da wohl fast alle Spielercharaktere das Lesen und Schreiben mit der Muttermilch aufgesogen haben, wird damit den Schriftgelehrten das Besondere entrissen. Das eigentlich mystische was schreibt der denn da? oder was steht denn da? könnte im Spiel viel spannender werden, wenn der eigentlich als üblich vorauszusetzende Analphabetismus öfter ausgespielt würde. Und dieser Charaktertyp wird dadurch auch schöner zu spielen. Auch wenn LARP in einer Fantasy-Welt spielt, so sollte das Lesen und Schreiben trotzdem Gelehrten vorbehalten sein. Wörter wie Gerstensaft, Met und Wein können nach jahrelanger Übung selbstverständlich auch Barbaren lesen...
Dieser Artikel ist erschienen bei:
LARPzeit.de