Es gibt ein aktuelles PC- und Konsolenspiel, das seit seiner Veröffentlichung im Dezember letzten Jahres wie kaum ein anderes im Internet und in den Medien diskutiert wurde. Die Rede ist von Cyberpunk 2077, bei dem es darum geht, in einer düsteren und gleichzeitig neonbunten Zukunft zu bestehen, die von Großkonzernen und kriminellen Gangs dominiert wird und in der der Unterschied zwischen Gut und Böse fließend ist. Das renommierte polnische Studio CD Projekt RED, das für seine Umsetzung des Spiels Witcher 3 gefeiert wurde, hat es entwickelt, und bereits seit seiner Ankündigung 2012 und trotz mehrerer Verschiebungen des Veröffentlichungstermins entstand ein großer Hype um dieses Cyberpunk-Spiel.
Ebenso groß waren jedoch die Enttäuschung vieler Fans und der darauffolgende Shitstorm, als das Spiel bei seiner Veröffentlichung zahlreiche Bugs aufwies und auf vielen Konsolen nur eingeschränkt spielbar war. Zu den technischen Schwierigkeiten kamen Vorwürfe gegen das Entwicklerstudio, dass dieses seine Mitarbeiter zu aufreibenden Arbeitsbedingungen genötigt habe – ein Verhalten, das für viele gut zu den seelenlosen Megacorporations im Spiel passen würde.
Andererseits zeigten sich viele Fans (insbesondere die mit entsprechend leistungsfähiger Hardware) begeistert von der grafischen Pracht und der Story, so dass das Spiel trotz Kritik mit weltweit mehr als zehn Millionen verkaufter Exemplare ein wirtschaftlicher Erfolg ist. Egal, ob man das Spiel liebt oder hasst: Cyberpunk ist wieder in aller Munde. Das nehmen wir zum Anlass, das Genre und seine Umsetzungen im Larp genauer zu betrachten.
Bild: syberianmoon(Adobe Stock)
Was ist Cyberpunk?
Ursprünglich bezeichnete der Begriff Cyberpunk eine in den 1980er Jahren entstandene Spielart der Science-Fiction-Literatur. Cyber leitet sich von Kybernetik (engl.: Cybernetics) ab, der Wissenschaft, die sich mit Kommunikation und automatischen Kontrollsystemen bei Maschinen und Lebewesen beschäftigt. Punk ist der gleichnamigen Subkultur entlehnt, die sich durch Lautstärke, Aggression und Widerstand gegen das Establishment auszeichnet.
Cyberpunk spielt meist in einer dystopischen Zukunft, in der fortschrittliche Technologie auf eine im Verfall befindliche Gesellschaft trifft. Die Welt dieser Zukunft ist nicht strahlend und sauber, sondern düster, schmutzig und von Gewalt geprägt. Große Konzerne kontrollieren das Leben und die Gesellschaft, die Menschen werden überwacht und kontrolliert. Dazu kommt der sogenannte Transhumanismus, der es Menschen erlaubt, ihre Körper mit Technologie zu verschmelzen und den menschlichen Geist in eine digitale Welt, den Cyberspace, zu transferieren.
Die frühen und prägenden Werke dieses Genres entstanden zu einer Zeit, in der der Kalte Krieg langsam zu Ende ging, große technologische Fortschritte gemacht wurden und mit dem Heimcomputer die Digitalisierung in die Wohnzimmer der Menschen Einzug hielt, aber in der zunehmend wirtschaftliche Ungleichheit und soziale Konflikte zutage traten.
Als geistige Grundlage des Cyberpunks gilt die Neuromancer-Trilogie des amerikanischen Autors William Gibson. In dieser dystopischen Vision einer umfassend vernetzten Zukunft bewegen sich die Protagonisten durch eine in kunterbuntes Neonlicht getauchte Welt voller Gewalt und menschlicher Abgründe. Der von ihm beschriebene Transhumanismus ermöglicht durch Augmentationen – künstliche Erweiterungen des Körpers, die teils kosmetischer, teils nützlicher Natur sind – eine umfassende Optimierung der Menschen. Letztlich wird dadurch aber nicht die Gesellschaft verbessert, sondern nur neue Möglichkeiten für Gier, Ungleichheit, Verbrechen und Machtmissbrauch geschaffen.
Bilder: grandfailure(Adobe Stock), © Warner Bros.
Neben William Gibson, der weiterhin Geschichten veröffentlicht, die dem Genre zugerechnet werden können, wird häufig ein zweiter Autor als besonders prägend gesehen: Philip K. Dick. Seine Erzählungen handeln von Themen wie Künstlicher Intelligenz, Identität und Biotechnologie. Dicks literarische Werke entstanden zwar zum Teil Jahrzehnte vorher, inspirierten aber einige der bekanntesten Cyberpunk-Filme. In Total Recall (basierend auf Dicks Kurzgeschichte Erinnerungen en gros) implantiert ein Unternehmen seinen Klienten falsche Erinnerungen, in Minority Report bekämpft eine Spezialeinheit Verbrechen, die noch gar nicht stattgefunden haben, und in Ridley Scotts Genreklassiker Blade Runner (basierend auf der Geschichte Träumen Androiden von elektrischen Schafen?) geht es um die Jagd auf biotechnologisch hergestellte und von Menschen kaum zu unterscheidende Replikanten und die Frage, was das Menschsein ausmacht. Insbesondere Blade Runner gilt als Kultfilm und visuelle Meisterleistung, dessen Optik das Genre bis heute prägt.
Neben Büchern und Filmen gab es mit Cyberpunk von Autor Mike Pondsmith schon früh ein Pen-&-Paper-Rollenspiel in diesem Genre. Ursprünglich spielte dessen 1988 erschienene erste Ausgabe im Jahr 2013, die zwei Jahre später veröffentlichte und bekanntere zweite Edition Cyberpunk 2020 im Jahr 2020. Inhalte, Charaktere und Hintergrundgeschehen dieses Rollenspiels beeinflussten nicht nur das eingangs beschriebene PC- und Konsolenspiel, sondern sicherlich auch die eine oder andere Larp-Umsetzung in den letzten Jahrzehnten.
An Beliebtheit übertroffen wird dieses Spiel durch das lange Zeit dominierende und 1989 erschienene Shadowrun, das mit phantastischen Elementen wie Magie, Elfen, Orks und Trollen aufwartet und diese mit Technologie verknüpft. Dadurch bietet Shadowrun eine Mischung, die einen ganz eigenen Reiz hat und interessante Spielansätze ermöglicht. Entstanden sind eine umfangreiche Buchreihe und mehrere Computerspiele sowie verschiedene Larp-Umsetzungen.
Die Abgrenzung zwischen Cyberpunk und einfacher düsterer Science-Fiction ist nicht immer einfach. Unter den Fans des Genres herrscht häufig keine Einigkeit, und auch bei einigen der zuvor genannten Werke (etwa Blade Runner) ist die Einordnung zumindest umstritten. Das ist ein Punkt, in dem sich Cyberpunk-Fans vermutlich nicht so stark von manchen Anhängern der Musikrichtung Metal unterscheiden (oder von Larpern), die leidenschaftlich über Definitions- und Abgrenzungsfragen diskutieren können.
Wir leben heute in jener Zukunft, die sich die Schöpfer des Cyberpunks in Büchern, Filmen und Spielen vorgestellt haben. Vieles, was vor dreißig Jahren futuristisch wirkte, etwa Computer im Westentaschenformat oder eine weltweite Vernetzung, ist für uns Alltag. Auch im Bereich virtueller Realität sind wir den damaligen futuristischen Ideen zumindest ein gutes Stück nähergekommen, auch wenn die rein gedanklich kontrollierte Reise durch virtuelle Welten noch auf sich warten lässt. Ist also das Genre überhaupt noch relevant?
Viele im Cyberpunk kritisch beleuchtete Themen, etwa Umweltverschmutzung, Überwachungsstaat und die Macht großer Konzerne, sind leider weiterhin präsent, wenn nicht gar noch dramatischer als in der Anfangsphase des Genres. Eine Stärke des Genres war es immer, aktuelle gesellschaftliche Probleme in leicht abgewandelter Form in die Zukunft zu verlegen. William Gibson war beispielsweise schon 1990 der Ansicht, dass wichtige Aspekte der Cyberpunk-Zukunft längst eingetroffen seien, insbesondere die ungleiche Verteilung von Reichtum und der ungerechte Zugang zu lebensnotwendigen medizinischen Behandlungen. Für düster-futuristische Geschichten bleibt also (leider) auch in Zukunft viel Raum.
Bilder: © CD Projekt RED
Cyberpunk und Larp
Wie angesprochen gab es auch Larps in diesem Genre, und es gibt sie immer noch immer mal wieder. Im Vergleich zu den großen Genres wie Fantasy oder Endzeit fristen sie zwar eher ein Nischendasein, aber es finden sich erste Cyberpunk- und Shadowrun-Larps bereits in den 1990er Jahren. Vereinzelt lassen sich deren Spuren noch im Internet finden, auch wenn die meisten der damaligen Orgas nicht mehr aktiv sein dürften. Wer in alten Larpforen gräbt, kann Hinweise auf frühe Cyberpunk-Larps und Zeugnisse der larpspezifischen Probleme entdecken, die dieses Genre mit sich bringt. Geschichten von Spielern, die mit ihren Spielzeugwaffen mitten in der Stadt wilde Aktionen durchziehen, Passanten erschrecken und Polizeieinsätze auslösen, klingen für heutige Larper vielleicht wie urbane Legenden, beruhen aber bisweilen auf realen Geschehnissen.
So etwas passiert heute (hoffentlich) nicht mehr, dennoch bleibt wie bei anderen futuristischen Larp-Konzepten die Frage der Locationwahl eine große Herausforderung. Das klassische Bild einer überfüllten engen Cyberpunk-Stadt lässt sich auf Zeltplätzen oder in städtischen Jugendzentren eben nicht leicht realisieren. Auch andere genretypische Aspekte lassen sich nur schwer in Spielkonzepte umsetzen, etwa das Verschmelzen von Geist und Computer im Rahmen einer vernetzten virtuellen Realität.
Für Auseinandersetzungen mit modernen Waffen kann man dagegen auf ähnliche Lösungen wie im Endzeit-Larp zurückgreifen und zum Beispiel optischmodifizierte Nerfwaffen benutzen. Die passende Kleidung und Ausstattung lassen sich vergleichsweise gut beschaffen, obwohl weniger Anleitungen als für das Fantasy-Larp zur Verfügung stehen. Verschiedene Orgas lösen diese Probleme auf unterschiedliche Weise, und wir wollen Euch in diesem Heft drei davon vorstellen. Aber nicht nur Lösungen und Herangehensweisen sind unterschiedlich, sondern auch die Motivation zum Spiel in diesem Genre.
Für die Resurrection-Orga, die von 2003 bis 2015 Cyberpunk-Larps organisiert hat, standen der Gegensatz von High Tech und Low Life und das Spannungsfeld von fiktiver Spitzentechnologie und gesellschaftlichem Verfall im Vordergrund. Der erzählerische Schwerpunkt lag dabei mehr auf dem sozialen als dem technischen Aspekt des Cyberpunks, und die Handlung drehte sich vornehmlich um das Schicksal der bespielten Charaktere, die sich mit den Ränken lokaler Konzerne und anderer Fraktionen auseinandersetzen mussten.
Für die dänische Nero Light-Orga ist ein Kernelement des Cyberpunks, dass er mit menschlicher Augmentation spielt und infrage stellt, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Dadurch sei man viel weniger darauf beschränkt, nur das zu spielen, wonach man aussehe. In einer Welt, in der mit Geld alle möglichen Implantate verfügbar seien, könne auch eine zierliche Frau in der Lage sein, einen bulligen Kerl problemlos zu überwältigen. Das will die Orga bei ihrem für diesen Sommer geplanten Spiel nutzen und den Teilnehmern große Freiheiten geben, das zu spielen, was sie wollen. Außerdem freut sie sich darauf, coole Technologien nahtlos ins Spiel integrieren zu können, die das Spielerlebnis verbessern sollen.
Mit einer futuristisch-gruseligeren Variante unserer Welt beschäftigen sich schließlich die Macher von Greylight 2142 deren geplantes Spiel durch die Corona-Pandemie auf Mai 2022 verschoben werden musste. In der von ihnen gewählten phantastischeren Variante des Cyberpunk-Genres sehen sie eine gute Gelegenheit, gesellschaftlich relevante Thematiken unserer Zeit in einem abstrakten (und damit sicheren) Rahmen erlebbar zu machen.
Verschiedene weitere Orgas arbeiten im Moment an entsprechenden Konzepten. Ob Cyberpunk-Larp gerade generell eine Renaissance erlebt oder hier nur ein kurzfristiges Wiederaufflackern im Rahmen des Hypes um Cyberpunk 2077 stattfindet, ist noch nicht absehbar. Auf jeden Fall stehen die Chancen gut, dass wir in naher Zukunft noch weitere interessante Ausflüge in eine neonbunte und zugleich schmutzige futuristische Welt unternehmen dürfen. Ich jedenfalls suche schon mal passende Klamotten raus.
Text: Karsten Dombrowski
Bilder (unten): © CD Projekt RED
Dieser Artikel ist erschienen bei:
LARPzeit.de