Larp ist mehr als nur ein Spiel – jede*r, der sich schon einmal an Live-Rollenspiel versucht hat, weiß das sehr genau. Larp erzeugt intensive Emotionen, ermöglicht Perspektivübernahme und lädt zum Experimentieren ein. Wenn wir also im Larp Elfen, Orks, Soldaten der napoleonischen Ära oder Space Marines darstellen können, wieso dann nicht auch Charaktere anderen Geschlechts? Sind Frauen und Männer im LARP nicht ohnehin völlig gleichberechtigt? Und wenn nicht – warum ist das so?
Mit diesen und weiteren interessanten Fragen rund um das Thema Sex, Gender und Feminismus beschäftigt sich die Aufsatzsammlung LARP: Geschlechter(rollen) aus dem Verlag Zauberfeder. Mit 100 Seiten ist sie recht schlank gehalten und lässt sich schnell in ein oder zwei Stunden durchlesen. Sie umfasst insgesamt acht Beiträge, davon sind zwei in englischer Sprache verfasst, die übrigen auf Deutsch.
Elternschaft, Crossplay und historische Korrektheit
In Eltern werden – Larper bleiben befasst sich Anke Kühne mit den Veränderungen, die eine Elternschaft für Larper*innen mit sich bringt. Sie thematisiert dabei nicht nur Probleme und Hindernisse – quietschende Milchpumpen, Stillen auf einer Con oder Kinder als wandelnde OT-Blasen –, sondern macht auch konstruktive Vorschläge für werdende Eltern und Mit-Larper*innen. Dadurch ist der Artikel nicht nur für (werdende) Eltern interessant, sondern auch für Larp-Orgas und alle, die gemeinsam mit Eltern oder Kindern larpen. Der Beitrag ist sehr schön strukturiert und angenehm zu lesen. Besonders im Gedächtnis geblieben sind mir die anschaulichen Anregungen, wie der Kontakt mit Kindern ins Spiel der Erwachsenen und in die Charaktergestaltung einbezogen werden kann.
„Um ein Kind aufzuziehen, braucht es ein ganzes Dorf.“ (S. 10)
Dass der Umgang mit rigiden Geschlechterrollen und Diskriminierung auch bewusst Teil des Larp-Geschehens werden kann, beschreibt Muriel Algayres in Gender exploration, segregation and oppression in the larp „Harem Son Saat“. Die Verfasserin ist Autorin des historisch inspirierten Live-Rollenspiels Harem Son Saat, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einem fiktiven Sultanat angesiedelt ist. Weibliche, männliche und genderneutrale Charaktere werden in diesem Setting streng voneinander separiert und klaren Verhaltensregeln unterworfen. Dies lädt die Spieler*innen dazu ein, die Dynamiken eingefahrener Geschlechterrollen zu hinterfragen und sich selbst in anderen Rollen auszuprobieren. Der Beitrag ist mit Fotos von Harem Son Saat untermalt und macht definitiv Lust, selbst ein solches Experiment auszuprobieren. Zudem finden sich in dem Beitrag zahlreiche gute Hinweise zur Vermeidung stereotyper Geschlechterdarstellung.
In „Tea is not a drink, it’s a hug” – To embrace a different role beschreibt Lukas Riesen seine ersten Erfahrungen mit Crossplay, d.h. der Darstellung einer Person eines anderen, in diesem Fall weiblichen, Geschlechts. Die „Verwandlung“ in einen weiblichen Charakter wird ausführlich beschrieben, allerdings bleibt der Beitrag insgesamt sehr knapp und oberflächlich. Hier hätte mir mehr Tiefe gut gefallen, z.B. konkrete Kommentare und Feedback von Mitspieler*innen, Hindernisse bei der Umsetzung des Crossplays oder mögliche Fettnäpfchen bei der Darstellung des anderen Geschlechts.
Deutlich intensiver geht Martina Ryssel das Thema Crossplay in ihrem Beitrag Crossplay im LARP: Von Männern, Frauen und anderen Orks an. Sie erläutert das Thema zunächst von einer theoretischen Perspektive und leitet dann zu ihren eigenen Erfahrungen mit Crossplay in einem historisch inspirierten Larp-Setting über. Dabei beschreibt sie nicht nur Möglichkeiten für Orgas, mit Crossplay konstruktiv umzugehen, sondern nennt auch konkrete Ideen zur Darstellung eines männlichen Charakters durch eine weibliche Person. Besonders interessant sind dabei auch Martinas persönliche Eindrücke über die Interaktion anderer Spieler*innen mit ihr als männlichem Charakter. Insgesamt zieht sie ein positives Fazit, das dazu anregt, selbst über Crossplay nachzudenken – und über die Art, wie man mit Charakteren des anderen Geschlechts interagiert.
„Mein russischer Trapper musste sich damit nicht herumschlagen. Man hörte direkt auf ihn. Man ließ ihn ausreden. Man machte ihm Platz. […] Man fragte ihn um Rat. Wie wohltuend das war, merkte ich im Verlauf des Spiels.“ (S. 41)
Jule Filipa Klein widmet sich in Sexism is a choice: Gleichberechtigung und Authentizität im Larp dem brisanten Thema Sexismus im Kontext von Live-Rollenspiel. Besonders hebt sie dabei das häufig vorgebrachte Argument hervor, die Einschränkung von weiblichen Charakteren resultiere aus einem Wunsch nach historischer Authentizität („damals war das so“). Die Autorin demontiert diese Argumentation auf gut nachvollziehbare Art und Weise und bringt verschiedene Beispiele, warum das Bild eines rein männlich geprägten „Mittelalters“ weder haltbar ist, noch Relevanz fürs Fantasy-Larp besitzt. Zugleich bietet sie Vorschläge, wie Spielerinnen auch in real-historischen Larp-Settings volle Beteiligungsmöglichkeiten erhalten können und wie Konfliktspiel auch ohne Sexismus funktioniert. Ein überaus lesenswerter Beitrag, schlüssig argumentiert und hochinteressant.
„Der oder die Ohrenträger_in legt die Ohren am Ende des Wochenendes einfach wieder in eine Schachtel und geht nach Hause. Wenn man als Frau eine Woche lang angefeindet, ausgegrenzt und minderwertig behandelt wird, eben weil man auch in-time eine Frau ist, kann man diese Rolle nicht einfach […] in die Schublade stecken.“ (S. 53)
In Von feministischen Träumen und Räumen erzählen Martina Ryssel, Taisia Kann und Tina Leipold von ihren Erfahrungen mit Sexismus im Larp und von der Notwendigkeit exklusiv weiblicher Austauschplattformen wie Larp Women – Unite. In einem fiktiven Gespräch werfen sich die drei Frauen gegenseitig die Bälle zu, kommentieren ihre Aussagen und besprechen ihre eigenen, teils auch schmerzvollen Erfahrungen mit Sexismus in- und außerhalb der Larp-Community. Zugleich beschränken sich die drei Autorinnen aber nicht nur darauf, Erfahrungen auszutauschen, sondern sie diskutieren auch Lösungsansätze und Möglichkeiten, gegen Sexismus (out-time wie in-time) vorzugehen und für alle Larper*innen ein schönes, positives Spielerlebnis zu gewährleisten. Der Beitrag gewinnt vor allem durch die unterschiedlichen Perspektiven an Relevanz, zugleich wurden hier, in meinen Augen, die Möglichkeiten nicht ganz ausgeschöpft. Die Gesprächsstruktur hätte auch Raum dafür gelassen, etwas mehr Varianz in den Aussagen zu generieren, ggf. auch Gegenpositionen einzubringen und diese dann argumentativ zu entkräften. Dennoch ein sehr lesenswerter Beitrag, der daran erinnert, wie wichtig das Eintreten für feministische Positionen ist. Auch und gerade im Hobby.
„Ist es wirklich so viel schwieriger, sich eine Welt mit gleichen Rechten, Pflichten und Möglichkeiten für alle Geschlechter vorzustellen, als eine Welt mit Drachen und magischen Schwertern?“ (S. 66)
Um queere Identität im Larp-Kontext geht es in Axelle Cazeneuves Beitrag How to queer up a larp: A larpwright’s guide to overthrowing gender binary. Im Vergleich zu den anderen Aufsätzen der Sammlung geht die Autorin sehr wissenschaftlich an das Thema heran. Sie beschreibt die Konstruktion von sozialen Normen, im echten Leben wie im Live Rollenspiel, und zeigt Möglichkeiten auf, diese Normen, z.B. in Bezug auf Geschlechterrollen, aufzubrechen. Konkret auf den Larp-Kontext bezogen nennt sie eine Reihe von Optionen, um ein binäres Geschlechtermodell schon auf Ebene der Charaktererschaffung aufzubrechen und damit Stereotypen vorzubeugen. Insgesamt erschien mir der Essay trotz der praxisnahen Beispiele ein wenig zu theoretisch, ich hätte mich gefreut, wenn hier noch deutlicher auf das Thema „queere Identität“ im Larp-Kontext eingegangen worden wäre. Nichtsdestotrotz aber ein wichtiger Beitrag, insbesondere für Orgas und Spielleitungen.
Im letzten Beitrag #feminismus und Spiele für alle stellt Taisia Kann die Nano-Game-Anthologie #Feminism vor, eine Sammlung von 34 kurzen Rollenspiel-Szenarien, die sich mit feministischen Themen und der feministischen Sicht der Welt beschäftigen. Die Spieler*innen übernehmen dabei mehr oder weniger festgelegte Rollen – teils mit mehr, teils mit weniger Requisiten – und befassen sich mit Geschlechterrollen, Gleichberechtigung oder Gewalt gegen Frauen. Die Rezension und die Beispiele aus der Anthologie haben mich sehr neugierig gemacht und regen dazu an, die Anthologie selbst auszuprobieren. Der Beitrag rundet die Sammlung also mit einem sehr praxisnahen Ausblick perfekt ab.
Reflexion und neue Impulse
Insgesamt ist LARP: Geschlechter(rollen) eine sehr gelungene Aufsatzsammlung, die sich wichtigen Themen widmet und diese auf gut verständliche, praxisnahe Weise umsetzt. Die Autor*innen erheben keinen moralischen Zeigefinger und verstehen sich nicht als „feministische Larp-Polizei“, trotzdem werden Leser*innen zu einer kritischen Reflexion des eigenen Spielverhaltens angehalten und zum Nachdenken gebracht. Konkrete Beispiele und Ideen für die Charaktererschaffung oder die Con-Gestaltung geben zudem Impulse, um gewonnene Erkenntnisse selbst umzusetzen und das Spiel zu bereichern.
Kritik
Ein paar kleine Kritikpunkte bleiben trotzdem übrig. Das Thema Feminismus/Sexismus wird in der Sammlung sehr intensiv behandelt, andere Themen wie Queerness im Larp (in-time wie out-time) oder Umgang mit Sexualität bleiben eher außen vor. Hier hätte ich mir noch den einen oder anderen zusätzlichen Beitrag gewünscht, gerne auch von betroffenen Personen selbst. Vielleicht kann das ja als Anregung für weitere Sammlungen dienen. Ferner fällt auf, dass sich der Band zwar als inklusiv versteht, in den meisten Beiträgen aber von einem rein binären Geschlechtermodell (männlich vs. weiblich) und cis-Personen ausgegangen wird. Für die Argumentation ist es völlig irrelevant, ob nun z.B. eine Frau und ein Mann ihr Kind aufs Larp mitbringen oder ob zwei Frauen das tun, von daher hätte man darauf durchaus hinweisen können – gerade in Hinblick auf die Thematik der Aufsatzsammlung.
Trotz allem möchte ich allen Larper*innen, die sich gerne intensiv mit ihren Rollen beschäftigen und etwas Neues ausprobieren möchten, diesen Essayband ans Herz legen, ebenso wie allen Orgas und Spielleitungen, die Sexismus auf ihren Cons keinen Platz einräumen möchten.
Mal ehrlich, der Band kostet 10 € – das geben wir Larper*innen doch sonst schon für Latexwaffenpflege aus.
Offenlegung: Zauberfeder ist Mitgesellschafter von Zauberwelten-Online. Diese Rezension wurde unabhängig von inhaltlichen Vorgaben geschrieben.
Das Produkt wurde kostenlos für die Besprechung zur Verfügung gestellt.
Dieser Artikel ist erschienen bei:
LARPzeit.de