In einem weit entfernten Sonnensystem hat ein furchtbarer Angriff eine menschliche Kolonie vollkommen zerstört. Die einzige Chance aufs Überleben scheint die ursprüngliche Heimat der Menschheit — die Erde — zu sein. Allerdings hat die kleine Zahl an Überlebenden mit internen Konflikten und den Fehlern der Vergangenheit ein schweres Erbe angetreten. Am Ende ist die Menschheit ihr eigener größter Feind.
Im Juli 2024 wurde in den Randbezirken von Helsinki ein komplettes Internat zum Raumschiff. Das Larp Odysseus orientierte sich an Serien wie Battlestar Galactica, um die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf eine dramatische und emotionale Reise quer durch die Galaxis mitzunehmen.
Storytelling als Larp-Stil
Für deutsche Verhältnisse ist die finnische Art des Storytellings im Larp eher ungewöhnlich, denn das Gesamterlebnis der erzählten Geschichte setzt sich aus mehreren Bausteinen zusammen, die am Beispiel des Larps Odysseus erläutert werden sollen.
Odysseus war kein reines Sandbox-Spiel, bei dem die Teilnehmerinnen und Teilnehmer den gesamten Verlauf selbst bestimmen konnten. Es nutzte das Clock-work-Design (Uhrwerk-Mechanik), bei dem die Grundgeschichte immer wieder an Schlüsselstellen ankommt, aber der Weg dorthin wird von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern bestimmt.
Die Rollen der Charaktere wurden vorher festgelegt und detailreich beschrieben. Beziehungen, Geschichten und Hintergründe wurden miteinander aufwendig verknüpft. Es wurde erwartet, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Inhalte des zum Teil viele Seiten umfassenden Charakterbogens und Details der Verknüpfungen gelernt und zu Spielbeginn verinnerlicht hatten. Gerne durften sie sich auch vor dem Spiel kontaktieren und gemeinsame Inhalte besprechen. Allerdings war klar, dass Geheimnisse und Überraschungen als Spielinhalt erhalten bleiben und einige Dinge erst im Spiel relevant werden sollten. So verwundert es auch nicht, dass einige Charaktere etwas über andere Rollen wussten, ohne dass diese Kenntnis davon hatten.
Ein großer Schwerpunkt im Spiel lag auf Emotionen und deren Entfaltung. Gewünschte Elemente waren Weinen bei Trauer, Schreien bei Wut oder Frustration. Das vollständige 48-Stunden-In-Time war wörtlich zu verstehen. Es gab keine Pausen, Akte, Zeitsprünge oder andere Unterbrechungen.
Story, Hintergrund und Weltenbau
Das Spiel war als soziales Drama im Weltraum zu verstehen und die generellen Themen lagen in den Bereichen Krieg, Überleben, schwere Entscheidungen und die Bedeutung der Menschlichkeit. Diese Themen wurden in einer Welt bespielt, die sich seit 70 Jahren im Krieg mit einer fremden Rasse befindet, die allgemein nur als die Maschinen bekannt waren. Viele Charaktere stammten von kleinen Schiffen, Außenposten, Kolonien oder waren versprengte Überlebende. Aus unbekannten Gründen hatten sich die Maschinen vor 30 Jahren spontan aus allen kriegerischen Handlungen zurückgezogen und waren verschwunden. Kurz vor Anfang des Spiels tauchten sie wieder auf. Die drei Planeten der Menschheit wurden fast vollständig vernichtet und nur einige wenige Schiffe überlebten die brutale Rückkehr der Maschinen. Jetzt galt es zu retten, was zu retten war: ein neues sicheres Zuhause und ein Ende des Krieges als Ziel fürs Überleben zu finden und zu entkommen.
Das Set
Das gesamte Szenario etwas Anderes als überwältigend zu nennen, wäre untertrieben. Vom ersten Augenblick des Betretens des Spielbereichs war klar: Das hier ist ein Raumschiff! Dies war vor allem drei Aspekten geschuldet.
Jeder Bereich im Spiel hatte ein eigenes Lichtdesign: die Wissenschaftsstation mit Gelb, die Brücke mit Rot und das Pflanzenlabor mit Lila. Allein anhand der verschiedenen Farbtöne war eine Orientierung möglich. Der große Zentralbereich war immer in blaues Licht gehüllt, das dem ganzen Set ein kaltes und lebensfeindliches Gefühl verlieh und so die Vorstellung, sich im luftleeren Weltraum zu befinden, erleichterte.
Zusätzlich war ein ununterbrochenes tiefes Wummern des Reaktors allgegenwärtig. Als das omnipräsente Grundgeräusch am Spielende aufhörte, hat die Stille förmlich gebrüllt. Die ganzen akustischen Signale, verschiedene Alarme und Töne, die bestimmte Notsituationen und Gefahren anzeigten, waren unglaublich stimmungsvoll.
Die Architektur des Schulgebäudes des Internats ist sehr futuristisch. Offene Wände aus Waschbeton, viel Stahl und Glas und offenliegende Kabelschächte aus Gitterblech strahlen Science-Fiction-Feeling aus. Die Turnhalle diente als Shuttle-Bay oder ein Garderobenbereich mit Gitterkäfig wurde zur abgetrennten Waffenkammer. Mit geschickt platzierten Leuchtelementen, riesigen Props und Raumteilern fiel das Eintauchen in die Science-Fiction-Umgebung leicht.
Das Spiel
(Spoilerwarnung, sollte das gleiche Spiel nochmals stattfinden)
Das Spiel begann für viele Charaktere der ungefähr 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf unterschiedlichen Schiffen, Außenposten und Planeten. Im Laufe der ersten Stunden kamen alle Charaktere auf dem einen oder anderen Weg auf der Odysseus an, und spätestens in diesem Moment wurde die harsche Realität deutlich. Das, was einst Heimat war, gab es nicht mehr. Die drei Kolonien der Menschheit und alle bedeutenden Außenposten waren vollkommen zerstört worden. Die Odysseus, gejagt von einer Übermacht an großen Kampfschiffen der Maschinen, war auf der Flucht, es gab einen Raumsprung nach dem anderen. Irgendwann hörte die Verfolgungsjagd auf, und es folgte eine Bestandsaufnahme: Wenige Schiffe in einer kleinen Flotte waren vermeintlich alles, was von der Menschheit übrig geblieben war. Ab diesem Zeitpunkt begann ein verzweifelter Kampf ums Überleben.
Die verschiedenen Abteilungen des Schiffs hatten Aufgaben, die sich nützlich angefühlt haben. Die Ingenieure und Mechaniker mussten das Schiff zum Laufen bringen beziehungsweise es instand halten, die Wissenschaftsabteilung hatte etliche intergalaktische Rätsel zu knacken, um Wegpunkte und Zielkoordinaten herauszufinden. Die Brücke hatte die Entscheidungskompetenzen und musste vor allem Raumkämpfe führen. Manchmal mussten Piloten mit Jägern unterstützen oder Marines Außenmissionen auf Planeten eskortieren. Auch die Bodentruppen hatten keinen leichten Job: Die Missionen waren körperlich anspruchsvoll und die Kämpfer immer mit zu wenig Munition ausgestattet.
Gleichzeitig positionierten sich viele Menschen politisch. Ein neuer Senat wurde gewählt, es wurden Entscheidungen getroffen, verhandelt und abgestimmt. Das Ziel war es, Macht vom Militär auf eine zivile Regierung zu übertragen. Weitere Einflussfaktoren waren Religion und Aberglaube.
Irgendwann wurde klar, dass sich die Maschinen getarnt unter den überlebenden Menschen auf der Odysseus befanden. Einige wussten nicht einmal, dass sie künstliche Lebewesen waren. Nicht alle Roboter wollten Krieg oder die Vernichtung der Menschheit. Viele hatten eine eigene Idee von Koexistenz und Zusammenleben. Spätestens ab diesem Zeitpunkt veränderten sich die Prioritäten für viele Charaktere vom Kampf ums Überleben zu „Wofür lohnt es, sich zu kämpfen und zu leben?“.
Das Ende war philosophisch geprägt. Die Crew fand einen möglichen Weg, die Maschinen mit einem Schlag auszulöschen. Die moralische Frage, ob mit einem solchen Schritt die Menschheit nicht viel schlimmer wäre, als die Maschinen es ihr vorgeworfen hatten, war nicht einfach zu beantworten. Als auf dem großen Monitor der sich ausbreitende Feuerball von der vollkommenen Vernichtung der Feinde kündete, jubelte kaum jemand. Der Frieden war teuer bezahlt.
Fazit
Das Spiel war konsequent in-time und es gab drei Schichten, die sich mit den vitalen Funktionen des Raumschiffspiels befassten. In jeder Schicht geschahen aufregende, dramatische und emotionale Dinge. Das hieß aber auch, dass mit jeder Sekunde Schlaf etwas vermeintlich verpasst werden konnte, was an „Fear of Missing Out“ (FOMO) grenzte, ein Phänomen der Angst, etwas zu verpassen, das mit der ungeheuren Präsenz der sozialen Medien Einzug gehalten hat. Das hat einige dazu gebracht, viel weniger zu schlafen, als gut und nötig gewesen wäre.
Der Autor hatte vor Beginn des Spiels große Bedenken, was die Einbeziehung der zivilen Rollen in einem militärisch geprägten Setting angeht. Ein absolut genialer Kunstgriff im Gamedesign war es, allen Rollen beim Betreten des Schiffes ein Aufgabengebiet zuzuordnen. Spieltechnisch berechnete die Schiffs-KI die beste Verwendung eines Charakters unter Einbeziehung der Fähigkeiten. So wurde niemand von schiffs- oder crewinternen Besprechungen und Entscheidungen ausgeschlossen, da alle Teil der Mannschaft waren. Das hat hervorragend funktioniert.
Das Spiel fand international unter Larpern und national in Finnland in allen Medien große Resonanz. Es wurde sicherlich ein überaus beeindruckendes Larp-Event realisiert und mit Bravour durchgeführt. An einigen Stellen wurde es als lebensverändernd, transformativ, bahnbrechend und als „das beste Larp-Erlebnis aller Zeiten“ bezeichnet. Dem kann sich der Autor nicht anschließen. In einigen Bereichen des Larp-Designs hat Odysseus aber definitiv neue Maßstäbe setzen können. Gerne mehr davon!
Text: Alexander Klug
Bilder: Jost L. Hansen
Dieser Artikel ist erschienen bei:
LARPzeit.de