Tollgund ist ein Großcon mit 1000 Spielern, bei dem sich das Geschehen nicht um große Schlachten und übermächtige Heldenfi guren dreht, sondern das sich auf kleine, detailreiche Geschichten konzentriert. Es stellt Helden in den Vordergrund, die üblicherweise eher in der zweiten Reihe anzutreffen sind: Händler und Heiler, Gaukler und Barden, Diebe und Bettler.
So lautete die Vision, die die Tollgund-Orga vor etwa drei Jahren in der LARPzeit vorgestellt hat (Tollgund – 1000 Helden aus der zweiten Reihe, LZ#65). Dann kam Corona und das ursprünglich für den Sommer 2020 geplante erste Con musste verschoben werden. In diesem Jahr konnte Tollgund 1 endlich umgesetzt werden, wenn auch – ebenfalls pandemiebedingt – mit weniger Teilnehmern als ursprünglich angedacht. Im Folgenden berichten die Orgamitglieder Arne Sendke und Ines Gneuß von den gemachten Erfahrungen.
Ein Larp unter Corona, geht das überhaupt? Eindeutig ja, es war nicht einfach, es hat viel Geduld und Nerven gekostet, aber es geht. Und es hat sich gelohnt. Auf dem Tollgund haben wir so manches ausprobiert. Einiges davon hat gut funktioniert, anderes werden wir zum nächsten Tollgund verbessern.
Aber erst einmal die Fakten. Tollgund fand 2021 vom 1.9. bis zum 5.9. auf dem Pfadfindergelände Immenhausen statt. Vier Tage Spiel, vom Time-in am Mittwochabend bis zum Spielende in der Nacht von Samstag auf Sonntag. Auf unserem Spiel waren letztendlich etwa 200 Teilnehmer (inklusive Orgas und NSCs). Bespielt wurde ein Low Fantasy-Setting und das Regelwerk basierte auf dem Prinzip DKWDDK (Du kannst, was Du darstellen kannst). Es gab keinen Weltrettungs-Hauptplot, sondern wir gestalteten eine große Spielfläche (Sandbox) mit vielen Mini-Plots. Vorbereitend gab es Workshops für alle, wie Tanz, Theater und den richtigen Einstieg in Tollgund, aber auch solche nur für Orgas, die sich mit Fragen wie Wie stelle ich wichtige Rollen dar? oder Wie gehe ich mit Störern um? beschäftigten. Coronabedingt hatte das Con extrem viele Ausfälle (auch im Team) und eine sehr lange Vorbereitungszeit von drei Jahren.
Plotlotterie – wenn man nichts weiß
Stell Dir vor, es ist Con und keiner geht hin. Na gut, das ist zu hart formuliert. Stell Dir vor, es ist Corona und es findet ein Con statt. Weil aber Corona ist, gibt es eine extrem freundliche Regelung: Kommt jemand nicht, gilt sein Ticket automatisch auf dem nächsten Tollgund.
Das war herausfordernd, da wir jedem SC mindestens einen Plot oder eine Verknüpfung mit anderen SCs bieten wollten. Dies wird nicht einfacher, wenn man keine Ahnung hat, wer zum Con kommt. Zur Lösung dieser Herausforderung kam uns ein paar Monate vor dem Larp die rettende Idee: Plots, die ihren eigenen Kontext mitbringen.
Ein Beispiel: Normalerweise beginnt ein Plot mit dem Auftrag (oder so ähnlich): Du möchtest etwas über die Geheimnisse der Slums wissen? Finde Elmar und lass Dich von diesem zu dem Orakel von Uppdag bringen. Da wir nun im Vorfeld weder wussten, ob Elmar oder das Orakel anwesend sein würden, konnten wir uns in der Vorbereitung auf diesen Kontext und diese Verknüpfungen (Elmar und Orakel) nicht verlassen. Zur Lösung haben wir Plot mit folgenden Briefi ngs erzeugt:
Spieler A erhielt das (verkürzte) Briefing: Du möchtest etwas über die Slums wissen? Finde den, der das gleiche Fellstück trägt wie Du. Dieser Spieler A erhielt dann mit dem Briefing ein Fellstück.
Spieler B erhielt das (verkürzte) Briefing: Du weißt, dass das Orakel in Uppdag immer ein rotes Tuch an der linken Hand trägt und alles über die Unterstadt weiß. Natürlich erhielt Spieler B ebenfalls ein Fellstück. Spieler C schließlich erhielt ein rotes Tuch für die linke Hand und ein etwas längeres Briefing über die Slums. Die Umschläge mit den Briefings und den Artefakten wurden vor Time-In (mehr oder weniger zufällig) verteilt. Auf diese Weise entstanden sehr viele Verknüpfungen, und wir hatten ein vielschichtiges Hintergrundambiente geschaffen. Tollgund wurde so zu einem Ort, an dem überall etwas passiert.
Raum geben, Raum Nehmen
Ein zentrales Element von Tollgund ist das Prinzip Raum geben, Raum nehmen. Wir briefen das mit viel Energie im Vorfeld und in den Workshops.
Damit ist gemeint, dass Larp aus unserer Sicht besser funktioniert, wenn jeder sich mal groß macht, um seine Rolle darzustellen und die anderen Teilnehmer als Projektionsfl äche nutzt, und sich mal klein macht, damit man selbst auf diese Weise genutzt wird.
Dieses Prinzip soll dafür sorgen, dass alle Teilnehmer Spielspaß haben. Schlimm sind die Momente, wenn sich immer der gleiche Teilnehmer qua Rolle (Ich bin der Herzog, wenn ich rede, schweigst Du!) auf Kosten Dritter zu oft in den Vordergrund schiebt. Das Prinzip hat häufi g und gut funktioniert. Aber noch nicht zu 100 Prozent. Es gab noch Rollen, die einfach zu häufi g Raum einnahmen (Slumbewohner pöbeln in der Oberstadt, der Bedrohungsritter tritt nur mächtig auf, die Schwestern waren nie schwach). Zur Behebung verändern wir das Prinzip beim nächsten Mal ein wenig zu: Sei dominant – sei devot. Damit ist gemeint, dass jede Rolle, die dominant auftritt und sich Raum nimmt, (zwingend) auch mal devot sein, sich klein machen und Raum geben muss. Das gilt für jeden Teilnehmer und vor allem auch für jeden NSC.
Es erzeugt einfach Spieltiefe, wenn sich der übermächtige Richter der Unterstadt klein macht – und bei einer einfachen Bewohnerin um Entschuldigung bittet. Keine Rolle, ob SC oder NSC, sollte ständig übermächtig, allbeherrschend oder über allem erhaben sein. Larp funktioniert schließlich nur miteinander.
Ausblick
Die nächsten Termine der Tollgund-Orga sind hier aufgeführt, und finden unter anderm auf dem gleichen Gelände in Immenhausen statt. Wieder wird eine Stadt bespielt, mit ihren vielen kleinen Geschichten, Geheimnissen und auch Abenteuern. Natürlich werden wir auch einige Überraschungen einbauen, so wird es ein neues Viertel geben und die Rechte des Charakters, eine Waffe mit sich zu führen, werden wir etwas verschärfen (um so noch mehr Spielpotential zu erzeugen).
Text: Ines Gneuß und Arne Sendke
Bilder: Tollgund-Orga
Besondere Erfahrung für eine Orga
Ich war mir etwas unsicher, ob es gut werden würde.
Am Abend zuvor hatten wir die Spieler vom Tollgund-Viertel Croga, in dem Nachfahren von ehemals flüchtigen und aufständischen Sklaven und Leibeigenen leben, in der Nacht des Mutes in den Wald geschickt. Sie sollten ihre Tapferkeit beweisen und ein Artefakt zurückbringen. Heute Abend sollte nun die Ehrung der drei Mutigsten am Lagerfeuer von Croga stattfinden. Wir hatten zwar in-time eine tolle Tänzer- und Sängerinnen-Gruppe engagiert, aber wegen Corona konnten wir kein gemeinsames Essen anbieten und eigentlich war nichts so richtig vorbereitet.
Da saßen wir nun alle am Lagerfeuer, dabei auch einige Gäste aus dem Viertel Bollbork, und sangen zum Auftakt unser Croga-Lied: Unsere Bürde ist schwer, denn sie fordert den Mut … Wir kämpfen für Freiheit … Wir fürchten uns, doch wir stehen bereit. Für Crooga – unsere Freiheit! Jetzt forderte Pa, das Oberhaupt von Croga, die Mutigen auf, von ihren Erlebnissen im Wald zu erzählen. In meinem unerfahrenen Orga-Kopf drehten die Systemgedanken Pirouetten: Wird das langweilig, wenn jetzt alle erzählen? Wie finden das die Bollborker Gäste? Müssen die Tänzerinnen zu lange warten? Sind die Spieler enttäuscht und wollen eigentlich etwas anderes machen? Ist es schlecht für die Immersion, wenn ich als No-name-Char neben Pa stehe und mich mit ihm abspreche? Aber dann fi ng es an und die Stimmung war episch: Gesichter im fl ackernden Licht des Lagerfeuers und ein Spieler nach dem anderen trat vor, um von den Erlebnissen der letzten Nacht zu berichten … richtig spannend! Dann waren da plötzlich die Schatten … und wir liefen so schnell wir konnten und wurden auseinandergetrieben! – Eigentlich wollte ich nachts nicht in den Wald gehen, doch jetzt, wo ich die Verantwortung des Löffl ers bekommen habe, bin ich voller Angst mitgegangen … – Endlich schaffte ich es bis zu den Ellingen, die mir schließlich dieses Säckchen gaben! – Die Nacht verlangte am Heiligtum von Bollbork mein Blut als Opfergabe, doch sie wollte zu viel Blut. Es hat solche Freude gemacht, mitzubekommen, wie viel Spaß, Grusel und Nervenkitzel die Spieler mit den von uns vorbereiteten Dingen im Wald gehabt hatten. Ganz nebenbei habe ich als Orga noch wichtige Informationen bekommen, die ich im Spiel weiterverarbeiten konnte, ganz ohne out-time Blase, Telling oder andere Störfaktoren. Dann kamen die Tänzerinnen und schließlich spielte noch ein Croga auf einem mittelalterlichen Instrument und sang dazu. Was soll sich sagen? Die Stimmung war klasse, und vielleicht wurde der ein oder andere Spieler, der sich bis dahin nicht in den Wald getraut hatte, durch die begeisterten Berichte motiviert?
Ines Gneuß, Tollgund-Orga
Kann man als NSC zu viel Spaß haben?
Einige der wenigen gestellten Spielszenen bei Tollgund 1 (wenn nicht sogar die einzige?) Der Kniefall der Unterstadt stand kurz bevor, und ich war total aufgeregt. Ich war mit einer NSC-Rolle voll dabei. Zugegeben, dieser NSC-Charakter macht mir besonders viel Spaß, einfach, weil sie so eine herrlich intrigante, blöde Kuh ist.
Nun ja, schnell das Briefi ng der Haupt-Orga abgeholt: Ordentlich Slumbewohner zur Sau machen, Dinge von ihnen verlangen und – wichtig! - Bestrafung für drei von ihnen verlangen, weil sie Oberstädter in der Taverne belästigt haben sollen.
Okay, eigentlich nicht schwer zu merken, also auf ins Spielgetümmel der Szene, die sich folgendermaßen darbot: Die Slumbewohner waren in den Slums eingeschlossen, das Tor zu den Slums verschlossen, eine Reihe schmieriger Gestalten auf der einen Seite – ganz offensichtlich nicht begeistert, in den Slums eingesperrt zu sein - und wir edlen Oberstädter standen jenseits des verschlossenen Tores auf der anderen Seite. Los ging es ...
Ich trat in der NSC-Rolle vor und fi ng an herumzubrüllen: Ihr habt Oberstädter belästigt und den Kerzenzieher beleidigt! Das ist mein Vertrauter, wie konntet ihr nur! … Ihr wollt hier raus?! Das kostet! ... keif … keif… keif … In drei Minuten war ich voll ins Spiel gekommen und die Szene war toll! Ich hatte mich so in Rage geredet, dass ich glatt den wichtigsten Punkt im Briefi ng, nämlich, dass drei Slumbewohner bestraft werden sollten, vergessen hatte … Upsi … Zum Glück hat das eine zweite Oberstädter-NSC zurechtgebogen und die Bestrafung gefordert.
Dann wurde bestraft und wie: Die drei wurden gefühlt vom ganzen Rest der Slums verprügelt, und selbst die harten Kerle von der Stadtwache (Sollten die eigentlich auf uns aufpassen?) riefen nur noch verzweifelt nach einem Heiler. Hammerszene.
Und da kam er wieder, mein Systemblick versus zu viel Spaß am NSC-Konfl ikt. Keine Heiler, lasst das Pack da liegen!, schreit mein fi eser NSC-Charakter, aka ich. Gleichzeitig die Orga-Stimme in meinem Kopf: Hüstel… willst Du jetzt den Heilern das Spiel wegnehmen? Oder einen Slum-SC nötigen, seinen Charakter verbluten zu lassen? … hüstel …
Mein NSC-Char räusperte sich: Na gut, dann ruft halt die Heiler, aber lasst das Dreckspack erst noch etwas leiden! Puh … gerade nochmal die Kurve gekriegt.
Für mich war die Szene in-time und out-time ein Tollgund-Highlight, weil ich viel Spielspaß hatte (vielleicht sogar zu viel – geht das?) und ganz viel über die Darstellung einer tragenden NSC-Rolle und worauf ich in Zukunft achten sollte gelernt habe.
Ines Gneuß, Tollgund-Orga
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LARPzeit.de