Canis Lupus – der Wolf. Schon seit Jahrhunderten ist er das gefährlichste Raubtier in Mitteleuropa und ein fürchterliches Monster in zahllosen Märchen und Legenden. Doch als im Jahre 1750 Anno Domini der Freiherr von Bassenheim zur Wolfsjagd einlädt, stellt sich schnell heraus, dass Isegrim keineswegs die größte Bestie ist, die sich hier herumtreibt. Denn kein Monster ist schrecklicher als der Mensch.
Herzlich Willkommen auf der Wolfsjagd Run II.
Während das typische Fantasy-Con unter der Rubrik Mythen, Mächte, Moddermonster abläuft, ging es am Wochenende vom 7.3. bis 10.3.2024 auf der Neuerburg nahe Bitburg/Trier ganz anders zu. Im Zeitalter des Rokokos feierten vielmehr Ränke, Rache und Intrigen eine beeindruckende Renaissance. Und das in einer atmosphärischen Dichte, die ihresgleichen sucht. Angetan mit üppigen Gewändern, gepuderten Perücken und affektiertem Getue waren insgesamt 46 Charaktere am Hofe von Bassenheim zugegen (die immer präsente, aber kaum zu bemerkende Orgacrew nicht mit eingerechnet). In der Rolle des Georg Philipp von Frentz, Leibarzt des Freiherrn von Bassenheim, kehrte ich gerade von einer Forschungsreise zurück und musste mit großem Schock feststellen, dass man zu einer Wolfsjagd geladen hatte – und dass viele Raubtiere dieser Einladung gefolgt waren.
Die süße Musik der Kinder der Nacht schallte aus dem Wald, aber die wirklichen Bestien saßen lauernd an der großen Tafel und lächelten sich so verlogen freundlich an, dass sie ebenso gut die Reißzähne hätten fletschen können. Für eine der wenigen Rollen, die eine (relativ) weiße Weste besaß, ein mehr als furchtbares Willkommen. Doch das war der Plan des Ganzen, nicht wahr? Ein ordentliches Intrigen-Con muss dramatisch sein und zwangsläufig seine Charaktere gegeneinander aufwiegeln, und das Konzept der Wolfsjagd ist nichts anderes als ein ungeheuer gutes Intrigen-Con.
Es war nicht gut bestellt um die Gesundheit des alten, mürrischen Freiherrn von Bassenheim. Hatte er ein Testament gemacht? Jemanden als Erben bestimmt? Niemand war sich sicher, aber fast jeder wollte sicherlich ein Stück vom Kuchen ergattern. Oder vielmehr die ganze Torte. Auf den besten Moment zum Zuschlagen wartend, schlichen die geladenen Gäste um den geschwächten Leitwolf, bereit, jede Schwäche auszunutzen. Doch nicht nur der Adel konnte gutes Spiel erbeuten.
Auch an Dienerschaft, Soldaten und die an den Hof gezwungenen Vaganten war ausreichend gedacht worden. Die Orga hatte für alle(s) gesorgt. Was als vorsichtiges „umeinander Herumschleichen“ begann, wurde bald zu einem dichten Netz aus Lug und Trug, das sich immer fester um die Ränkeschmiede zusammenzog. Erste Übergriffe ließen trügerische Schlüsse darauf zu, wer als Antagonist infrage kam. Doch wehe dem, der sich zu sicher war. Immer wieder kamen neue Wahrheiten ans Licht und veränderten kontinuierlich den Eindruck der Lage. Weniger ein Whodunit (Krimi-Genre, Handlung beantwortet die Frage, wer das Verbrechen begangen hat) als ein „What-the-fragg-is-happening?“ war die Wolfsjagd vom ersten bis zum letzten Moment ein spannendes Erlebnis für alle Beteiligten.
Alle Charaktere wurden im Vorfeld von der Orga geschrieben und den Spielern zugeteilt. Das Gesamtwerk ähnelt in Umfang und Besetzung dem lokalen Telefonbuch von 1750 (ja, ich weiß, dass es im achtzehnten Jahrhundert noch keine Telefone gab, aber die Metapher war so verführerisch, dass ich mich dieser künstlerischen Freiheit nicht erwehren konnte), hat aber wesentlich mehr (und bessere!) Handlung parat. Verknüpfungen, Geheimnisse und Streitigkeiten sind äußerst gut durchdacht und logisch eingesetzt, so dass das Spiel zu einem dramaturgischen Selbstläufer werden konnte. Alles in allem haben die Hintergrundinformationen zusammengenommen den Umfang eines guten Romans – und auch dessen Qualität. Diese aufwändige Arbeit im Vorfeld hat sich (wieder) gelohnt.
Die Location war mir persönlich neu, obwohl schon ein paar Veranstaltungen dort stattgefunden haben. Die Neuerburg ist eine rustikal eingerichtete Jugendburg, die das Eintauchen in die andere Zeit vereinfacht hat. Die neue Herbergsleitung ist den Themen Larp und Reenactment gegenüber aufgeschlossen und offen für höflich geäußerte Sonderwünsche.
Okay, meine arg strapazierte Beinmuskulatur weiß jetzt, warum eine DIN-Norm für einheitliche Höhen von Treppenstufen sinnvoll ist, aber wenn ein ausgewachsener Muskeltiger (von einem Kater zu sprechen würde bedeuten, die Pein zu verniedlichen) der Preis für eine gute Location ist, zahle ich ihn gern. Grundsätzlich war der zweite Run ebenso genial wie der erste. Allerdings völlig anders. Und das war gut so. Über das fulminante Sandbox-Prinzip der Orga und das durchgehend intensive Charakterspiel der Spieler hinaus war es faszinierend, wie beide Runs trotz gleicher Grundvoraussetzungen völlig andere Gewichtungen aufwiesen und ganz unterschiedliche Wendungen nahmen.
Ein Beweis dafür, dass ein gutes Larp grundsätzlich von zwei Hauptfaktoren abhängt: Orga und Spieler. Da beide Faktoren auf dem Wolfsjagd Run II als hochkarätig bezeichnet werden können, kamen auch „Wiederholungstäter“ voll und ganz auf ihre Kosten. Das eine oder andere Déjà-vu ging in der konstanten Spannung verloren und schaffte es nicht, jemandem den Spaß zu trüben. Sicher, ein Feelgood-Larp ist die Wolfsjagd beileibe nicht. Soll sie auch gar nicht sein. Es geht darum, intensives Charakterspiel zu erleben, manches im stillen Kämmerlein, anderes im offenen Konflikt. Doch selbst im Konflikt haben alle darauf geachtet, dass auch dieses Mal für alle Beteiligten die Spielfreude nicht verlorenging. Genau hier liegt ja der Reiz beim Play-to-lose: Die Charaktere trachten einander nach dem Leben, inszenieren ein gewaltiges Gegeneinander – trotzdem spielen alle Spieler hervorragend miteinander.
Das macht es unter anderem so immersiv. Wer also intensives, gut vorbereitetes Intrigen- und Charakterspiel liebt, kann mit Wolfsjagd nichts falsch machen. Letzten Endes hat es auch den guten Leibarzt von Frentz gewaltsam dahingerafft. Doch getreu der Intention der Wolfsjagd-Orga war sein Tod für die Beteiligten ein ergreifendes Erlebnis. Gerüchten zufolge haben insgesamt circa fünfzehn Charaktere die Wolfsjagd nicht lebend überstanden. Für einige der Überlebenden wäre der Tod vielleicht sogar das gnädigere Schicksal gewesen. Doch auch wenn zum großen Time-Out am Samstagabend deutlich weniger Charaktere kein Leichentuch über sich ausgebreitet sahen, war es für alle Spieler ein Mordsspaß! Da ist es äußerst erfreulich, dass sich Gerüchte um einen Run III bewahrheiten.
Vom 3.4. bis 6.4.2025 werden wieder einmal die Wölfe im Wald heulen und die Monster in Kleidern und Gehröcken einander an die Kehle gehen…
In diesem Sinne: Waidmannsheil, werte LARP-Gemeinde!
Text: Rainer ZIPP Fränzen
Bilder: Devitha (devitha.fotografi e@icloud.com)
Dieser Artikel ist erschienen bei:
LARPzeit.de