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Archipel Orga

„Wir machen Cons und keine Klassenfahrten“

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Kategorie: Konzepte News/Blog Veranstaltungen

Es ist drei Uhr morgens, im Schein des verglimmenden Lagerfeuers frieren die Magier, Kriegerinnen, Heiler und Vagabunden, aus denen unser Trupp besteht, unter ihren Decken. Ich halte Nachtwache ... Plötzlich erhellt Kerzenlicht das Fenster im belagerten Hof, nur ein paar Schritte entfernt. Eine Vampyrin zeigt ihre Silhouette am Fenster. Einen Herzschlag später ist das Licht erloschen. Der Wind trägt das bedrohliche Heulen des Eis-Elementars im Inneren bis zu unserem Lager. Ich ziehe meinen Mantel fester um die Schultern und hoffe inständig, dass außerhalb des Feuerscheins nichts lauern möge. Ich wäre leichte Beute. Ich bin nicht bewaffnet und es ist mein erstes Larp. Da sehe ich einen Schatten aus dem Haus davonhuschen und rufe: Alarm!

Das berichtete eine Spielerin von ihrem allerersten Con, das sie mitten in der Vampyr-Quarantäne-Zone im Herzen Drachensteins verbrachte, einem der Länder der Archipelkampagne. Die Expedition in das Vampyr-Gebiet endete mit einem bitteren Sieg. Das ist länger her, die Archipel-Orga organisiert dieses Jahr ihr 75. Con und gehört damit zu den längsten Kampagnen in Deutschland. Für Stefan Tanfeld, genannt Tanne, Mitbegründer und Orgamitglied der Archipelkampagne, begann alles vor etwa 18 Jahren: Mein Sandkastenkumpel Flo hat mich einmal mitgenommen – und dann bin ich dabeigeblieben. Die Frühjahrsoffensive der Düsterbrook-Orga (1998) war mein erstes größeres Con, das mir in Erinnerung geblieben ist. Die Düsterbrook-Cons dürften vielen alten Hasen noch ein Begriff sein.

Um in einer Zeit, als die Szene noch viel kleiner war, gemeinsam dem Hobby Larp besser frönen zu können, schlossen sich Freunde und Bekannte zu einem Verein zusammen. Das bedeutete, nicht nur Cons zu besuchen, sondern vor allem selber welche zu veranstalten. Im Mai 2000 fand das erste Con Der Geist der Sithi in der Archipelwelt statt. Heute hat der Archipelkampagne e.V. fast 40 Mitglieder. Im Laufe der Zeit haben die Orgamitglieder gewechselt; manche kommen aus familiären oder beruflichen Gründen nur noch als Spieler auf Cons, aus anderen langjährigen Stammspielern sind neue Orgas (z.B. die Oh-Kultes Orga) geworden.

Die Archipelkampagnen-Cons sind meist für etwa 30 Personen ausgerichtet; es gab aber auch schon Cons mit 20 oder 60 Leuten.

 

 

Von DSA in die Mittellande und von da ins Archipel

In den Anfangszeiten des deutschen Larps gab es nur wenige Orgas. Zu den Hauptanbietern gehörten die verschiedenen Orgas der Mittellande-Kampagne. Auf den Cons, die Tanne und seine Freunde besuchten, fielen ihnen viele Dinge auf, die sie anders machen wollten. In entspannter Runde wurden Ideen erörtert: Kritisieren ist leicht, wir wollten unsere Ideen auch umsetzen!, erinnert sich Tanne. Flo hat die Initiative ergriffen. Den Weltenbau war er vom Tischrollenspiel gewöhnt. Wir haben gemeinsam ein Konzept und ein Regelwerk erarbeitet, die unsere Idee von Larp widerspiegeln. Das Regelwerk ist immer noch in Thilo Wagners Larp-Kalender verankert, dort kann man es in der erweiterten Suche in der Kategorie Regelwerk unter dem Namen ConTrolle auswählen. In das Konzept flossen Einflüsse aus dem Tischrollenspiel Das Schwarze Auge (DSA) ein. Wer sich in DSA auskennt, wird manche seiner Aspekte in unserer Hintergrundwelt erkennen, zumindest anfangs. Zum Beispiel hat Mors, der Totengott des Archipels, Ähnlichkeiten mit Boron. In unserer Göttin Eris, die für den Handel und die Umverteilung von Vermögensgegenständen zuständig ist, könnte man Züge des DSA-Gottes Phex erkennen, erklärt Tanne.

Was der Orga auf vielen anderen Cons das Spiel verdarb, sollte es auf den eigenen nicht geben. Vieles, was zu der Zeit als normal galt, wurde von der Archipel-Orga von Anfang an anders gemacht. Tanne hat da ein paar Beispiele: Wir kennen keine omnipotenten Magier, es gibt keine Schutzkreise gegen alles und jeden, Charaktere erhalten ab einem bestimmten Alter keine weiteren Fähigkeiten, sondern sie altern. Es gibt nur sehr selten NSC-Wellen, weil wir glauben, dass das intensive Spiel für die NSCs verhindert. Wir haben selten Wegwerf-NSC-Rollen, natürlich gibt es Monster und gelegentlich mal Zombies, aber normalerweise haben NSCs eine Basis-Festrolle, die meist wichtig ist und Tiefgang hat. Außerdem gibt es bei uns keine Endgegner der Marke übermächtiger zaubernder-Vierteldrachenviertelkoboldhalbzwerg und keine Flut an Artefakten.

Diesen unerwünschten Zuständen gegenüber stellte die Orga eine geschlossene, mittelalterlich angehauchte und klischeebehaftete Rollenspielwelt mit Elementen der Fantasy. Für allzu magische Wesen hat Tanne eine Lösung: Wesen wie Drachen, Halbgötter oder Riesen, die man unserer Meinung nach im Larp nur schwer darstellen kann, existieren, aber eben in Erzählungen oder Geschichten, und sind nicht auf Cons anzutreffen. In der Kampagne gibt es etwa zehn Länder, aus denen die Charaktere stammen können. Jedes Land ist von einer bestimmten realen Kultur inspiriert. Es gibt unter anderem etwas Spanisch-Orientalisches, Asiatisches, Schottisches, die italienische Renaissance, ein raues Wald-Setting, eine wilde Stammeskultur und so weiter. Um das zu ermöglichen, musste ein eigenes Regelwerk her, das immer wieder überarbeitet wurde und aktuell in der dritten Version vorliegt. Für Spieler hat das laut Tanne entscheidende Vorteile: Eine geschlossenen Hintergrundwelt hat enorme Vorteile beim Einordnen neuer Charaktere und hilft unserer Erfahrung nach bei der Immersion.

 

 

Die Spiele heute und früher

Die Orga hatte kaum Anfangsschwierigkeiten: Natürlich rieben sich anfangs einige Spieler, die uns noch nicht kannten, an unserem Konzept. Wir wollten ja bewusst vieles anders machen, was damals üblich war. Das hat sich aber selbst reguliert. Tatsächlich erhalten wir von neuen Spielern oft sehr positives Feedback, da wir sehr konsequent in-time sind und es bei uns trotz der langen Kampagne keine Power-Gamer gibt. Es will sich niemand auf Kosten anderer hochspielen. Einige Spieler, die auf Archipelcons mit dem Larpen begonnen haben, seien auf Fremdcons überrascht, wie schnell und häufig die Leute dort out-time gingen. Moderne Spielansätze wie Play-to-lose oder Play-to-drama werden in der Orga diskutiert, jedoch zeigen sie sich aktuell noch eher im individuellen Spielstil der Con-Teilnehmer und wurden noch nicht schriftlich im Regelwerk fixiert.

Ein sehr altes Zitat von mir, das immer noch gilt, lautet Wir machen Cons und keine Klassenfahrten. Man kommt bei uns manchmal physisch und psychisch an seine Grenzen. Unsere Cons laufen fast immer vier Tage, neben dem An-und Abreisetag also noch zwei volle Spieltage, und vom Time-In -bis zum Time-Out-Ruf sind alle in ihren Rollen, sagt Tanne. Unabhängig vom Spielstil galt aber auch schon vor zwanzig Jahren, dass alles, was die Spieler auf einem Archipelkampagnen-Con taten, Konsequenzen hatte. Die wenigsten Plots seien von Anfang bis Ende gescriptet.

Das heißt, die SL erschafft ein Anfangsszenario, weiß aber selbst nicht genau, was am Ende bei den einzelnen Plots herauskommt. Im schlimmsten Fall kann das dazu führen, dass Spieler mit ihren Handlungen die geplante Endschlacht vereiteln. Der Ausgang des Cons beeinflusst wiederum die Spielwelt, deren Bewohner und kommende Cons. Wir bereiten solche Geschehnisse gerne in unserer in-time Zeitung Die Gahter Botenkuriere nach, sagt Tanne. Die Auswirkungen sind je nach Plot mal größer oder geringer. So entstünden Diplomatiecons, Schlachtencons, Abenteuercons, Piratencons, Expeditionscons und vieles mehr. Spieler, die zwischen den Cons noch Dinge ausspielen wollen, um ihrem Charakter mehr Farbe zu verleihen, haben die Möglichkeit, dies mit der jeweiligen Länderorga zu besprechen oder im Forum untereinander auszuspielen. Für viele Spieler ist diese kontinuierliche Hintergrundwelt und die Möglichkeit, Ereignisse auf Cons in einen größeren, fiktiven Zusammenhang zu stellen, eine große Bereicherung, weiß Tanne.

Das Konzept und die Treue dürften einen großen Teil dazu beigetragen haben, dass es die Orga und den Verein heute noch gibt. Viele Larper sind seit den ersten Cons dabei und fast alle kommen wieder. Es gäbe viele Wiederholungstäter, wenn auf einem Con drei oder vier Neulinge dabei sind, sei das viel. Auf die Frage, was sich in den Jahren sonst grundlegend bei den Spielen geändert habe, findet Tanne eine klare Antwort: Wir sind älter geworden. Und auch die Ansprüche unserer Larper an das Gelände, die Unterbringung und so weiter haben sich gewandelt.

Wo Studenten noch mit einer Stulle und Bundeswehr-Plane irgendwo im Zelt gepennt haben, sind berufstätige Eltern heute nicht unglücklich, wenn es Zimmer und Waschbecken gibt. Denn viele haben kleine Nachwuchslarper bekommen! Wir gehen damit sehr praktisch um. Der Plot lässt sich zum Beispiel so gestalten, dass auch Kinder auf das Con kommen können und vom großen Bösen nichts mitbekommen. Natürlich muss man heute als Larpverein eine Facebook-Seite betreiben, das hatten wir früher auch nicht.

 

 

Mitmischen in der Archipelkampagne

Die Voraussetzungen zum Mitmachen sind denkbar einfach. Zwingend erforderlich sind keine Vorkenntnisse, sondern nur der Spaß am Rollenspiel. Tanne gibt aber zu, dass eine Hintergrundwelt, die jetzt bald über 75 Cons bespielt wurde, natürlich einschüchternd wirken kann. Mitmischen sei aber dennoch einfacher als mancher meint. Neueinsteiger können etwa durch die Wahl entsprechender Rollen leichter ins Spiel finden. Man muss bereit sein, sich die Grundregeln durchzulesen – vor allem zum Kampf und Heilerspiel – und einige Hintergründe zum Land, aus dem der Charakter stammen soll. Dafür gibt es aber Hilfe: Da SCs mit der Länderorga abgesprochen werden müssen, wird man vor dem ersten Con zusätzlich gebrieft, und wir stehen für Fragen immer zur Verfügung, erklärt Tanne. Niemand müsse alles wissen: Es gibt für die einzelnen Länder zum Teil sehr ausführliche Hintergründe, aber niemand erwartet, dass jemand, der zum ersten Mal dabei ist, alles weiß. Es ist ja auch nicht so, dass in der Spielwelt alle Charaktere alles wüssten.

Wenn man nicht gerade auf dem ersten Con die rechte Hand des Königs spielen will, wird man gut klarkommen! Wenn trotzdem Probleme auftauchen, fragt man einfach bei den Stammspielern nach. Tanne fordert außerdem von neuen Spielern: Ansonsten sollte man den Mut aufbringen können, für vier Tage komplett in seiner Rolle zu versinken, und als andere Persönlichkeit die Welt des Archipels zu entdecken. Belohnt werden die Spieler für ihre Mühen mit der besonderen Immersion einer geschlossenen Spielwelt.

Ich denke, für viele Spieler entsteht ein großer Teil der Begeisterung durch die Ernsthaftigkeit und Konsequenz, mit der jeder seinen Charakter spielt. Seine Rolle zu spielen und die Rolle des anderen ernst zu nehmen, ist das Herzstück der Archipelkampagne, meint Tanne. Ansonsten gilt wie so oft im Leben: Die Freundschaftlichkeit und Offenheit, mit denen wir neue Spieler aufnehmen, ist schuld daran, dass Jung und Alt im Archipel begeistert mitmachen.

 

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