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Blue Flame

Larp über das Feuer der Revolution

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Kategorie: Konzepte News/Blog Veranstaltungen

Hunger, fehlender Komfort und Erschöpfung sind Teil des Spiels. Mit diesem Satz begrüßt die Seite des spanischen Dystopie-Larps Blue Flame alle willigen Spieler – und vergrault wahrscheinlich direkt die, die sich derartigen Strapazen nicht gewachsen fühlen. Nach einer rein spanischen Umsetzung 2015 lud die Blue Flame Orga 2016 auch englischsprachige Larper für vier Tage auf ein Airsoft-Gelände nahe Valencia ein. Dabei war jede Sprache im Spiel willkommen, zur gemeinsamen Verständigung wurde Englisch genutzt. Aber auch ein paar Brocken Spanisch oder Italienisch boten sich bei einem Larp, das auf 60 bis 70 Spieler ausgelegt war, an, da die Anzahl der Spieler aus den nördlicheren Ländern eher gering war.

Liebe zum Detail: Das Design-Dokument

Vielen internationalen Larps liegt mittlerweile ein Design-Dokument zugrunde. Dieses Dokument hält Spielstil, grundlegende Regeln, Visualisierung, Story und Hintergrund fest, damit sich die Spieler auf das Larp vorbereiten und einstimmen können. Dem Design-Dokument von Blue Flame merkte man an, dass Profis am Werk waren. Es war nicht nur atmosphärisch geschrieben und stimmig designt, es versetzte den Spieler bereits in die Welt von Blue Flame. Insbesondere die Konzeptskizzen und Mood-Bilder für die Beispielkostüme zeigten, wie viele Gedanken sich die Orga im Vorfeld gemacht hatte. Da jeder Spieler für das Kostüm seines Charakters selbst verantwortlich war, bot das Dokument eine willkommene Hilfestellung. Die Charaktere wurden in Abstimmung mit den Spielern geschrieben. Außerdem waren erste Beziehungen zwischen den Charakteren festgelegt, so dass jeder Spieler bereits Ansprechpartner im Spiel hatte.

Workshops und Safe Zones

Blue Flame startete unter der Sonne Valencias in Kostümierung und mit Workshops. Drei Regeln wurden den Spielern direkt zu Beginn eingebläut: 1. Trink viel Wasser! 2. Schmier’ dich mit Sonnencreme ein! 3. Benutze Moskito-Repellent! Die Safe Zone war darüber hinaus Anlaufpunkt, sollte ein Spieler körperlich oder emotional am Ende sein. Hier gab es die Möglichkeit, zusätzliche Kalorien einzunehmen, denn auch wenn das in-time Essen spärlich war: Der Charakter sollte hungern, nicht der Spieler. Hier gab es neben erster Hilfe bei Bedarf auch psychologische Unterstützung. Da es in Blue Flame um das Erleben von Emotionen und die Widersprüche innerhalb einer Revolution gehen sollte, war das Larp nicht zielorientiert. Man konnte nicht gewinnen.

Dementsprechend waren auch die Workshops darauf ausgelegt, Regeln für das Miteinander festzulegen. Als Waffen wurden gestylte Nerfguns eingesetzt, aber jeder Spieler hatte die Freiheit zu entscheiden, was geschah, wenn er getroffen wurde. Absolut gelungener Ansatz war der Workshop Speed-Larping, in dem man überraschend jeweils zehn Minuten mit einem Charakter aus seiner Vergangenheit spontan eine gemeinsame Szene nachstellen musste. Da es der letzte Workshop vor dem Start des Spiels war, bot er den perfekten Einstieg.

 

 

Gruppenzugehörigkeit und Beziehungen

Um jedem Charakter ein spannendes Spiel zu ermöglichen, gab es unterschiedliche Zugehörigkeiten. Das Spiel fand in Libertad, einer Widerstandszelle statt. Der blaue Widerstand, auch Azules genannt, hatte gerade eine Gruppe von sechs orangefarbenen Mitgliedern der Gesellschaft von Great MYR entführt. Diese waren nicht nur plötzlich in Feindeshand und in der Minderheit, sie litten auch unter Entzugserscheinungen, da sie seit mehreren Stunden kein MYR3 erhalten hatten. Innerhalb des Widerstandes gab es noch weitere Gruppen. Die Guides, die sich um Neuzugänge auf Entzug kümmerten und psychologischen Beistand boten. El Dique, die obligatorische Militärtruppe, die sich um Verteidigung und Nahrungsbeschaffung kümmerte. Structure, zuständig für Technik, Instandhaltung und Contention, verantwortlich für Küche, Garten und Logistik. Mit der Voice hatte der Widerstand seinen eigenen Propaganda-Apparat, der die Botschaft, dass MYR3 gegen alles Menschliche sei, nach außen tragen sollte. Außerdem gab es noch zwei religiöse Bewegungen, die Hospitalers und die Reconcilers, wiederentdeckte Kreuzritter und Buddhisten, die noch einmal andere Motive nach Libertad brachten.

Libertad, das Gesicht der Dystopie

Bereits im Vorfeld wurden alle Spieler darauf vorbereitet, dass Libertad ein Ort der Gleichberechtigung und Toleranz sei. Während in Great MYR monogame, heterosexuelle Beziehungen die erwünschte Norm waren, war in Libertad alles erlaubt. So gab es auch Charaktere mit polygamen Beziehungskonstrukten, transsexuellem Hintergrund sowie Homo- und Bisexualität. Diese Freiheit wurde durch die Möglichkeit, sich nackt zu bewegen oder sich als Spielerin oben ohne zu zeigen, ergänzt. Ein Detail, dem alle Spieler zugestimmt hatten und das der freien Atmosphäre von Libertad zuträglich war. Gerade im Aufeinandertreffen mit Neuankömmlingen aus Great MYR bot es spielerisches Konfliktpotenzial.

Doch auch wenn Teile von Libertad wirkten wie eine Hippiekommune, Revolution ist unbequem. Schlafplätze bestanden aus mitgebrachten Isomatten und jeder Charakter hatte pro Tag drei Essensmarken, die er für die drei Mahlzeitenausteilungen nutzen konnte. Oder er tauschte sie für etwas anderes ein, blieb dann aber hungrig. In vielen Larps gibt es den Versuch, ein Währungssystem zu integrieren. Das funktioniert mal mehr und mal weniger gut. Blue Flame hat es geschafft, mit Nahrungszuteilungen, gesonderter Währung für Essen und Einkäufen und einem kleinen Geschäft das Gefühl von Entbehrung aufzubauen.

Neugierig, was es in Libertad zum Frühstück gab? Vier Butterkekse, ein Drittel Banane, ein Becher Kaffee mit Gewürzen. Mittags wurde ein winziger Teller Eintopf ausgeteilt, wenn man Glück hatte, mit Reis. Und ein Abendessen wurde durch Notfallverpflegung ersetzt, die so trocken war, dass sie auch noch eine Stunde später am Gaumen klebte. Dennoch griffen die Spieler kaum auf das Angebot der Safe Zone zurück. Wohl auch, weil sie mit den Dramen des Lagerlebens zu beschäftigt waren.

 

 

Emotionen und Konflikte

Was ist, wenn der Erfinder von MYR3, den man eigentlich abgrundtief hasst, plötzlich im Lager steht und nach dem Entzug um Vergebung bittet? Wenn man ohne MYR3 erkennt, wie sehr man den Ex-Mann, der plötzlich im Widerstand auftaucht, doch noch liebt? Wie verhält man sich bei einer Schwangerschaft, wenn man nicht sicher weiß, wer der Vater sein könnte? Was ist, wenn alles, was man glaubt, eine Lüge ist? Und wenn der Widerstand die gleichen Probleme hat wie die Gesellschaft, nur in einer anderen Farbe? Paranoia, Emotionen und Angst waren allgegenwärtig.

Aber auch Liebe und das Gefühl von Zugehörigkeit. Viele Details verstärkten diese Erfahrungen. Für die Entführten startete das Larp im Van der Kidnapper, was zum Gefühl der Desorientierung beitrug, denn obwohl man das Gelände vorher gesehen hatte, wusste man nicht mehr, wo man abgeladen wurde. Lageralltag, persönliche Konflikte und die allgegenwärtige Bedrohung, durch die Gesellschaft entdeckt zu werden, schürte Konflikte. Diese eskalierten nicht nur in der Spaltung der Azules, von denen ein Teil gehen und ein Teil das Lager erhalten wollte. Inmitten des Konflikts wurde das Lager überfallen. Hier hatte die Orga tatsächlich nicht nur NSCs in Ausrüstung des Peace-Corps gesteckt, sondern Motorradfahrer engagiert. Die drohenden Motorgeräusche, während die Charaktere zu Fuß in die Wildnis flohen, trugen noch zum Gefühl der Immersion bei.

Was vom Larp übrigbleibt

Tiefe Bindungen, Gemeinschaftsgefühl, Hass, Furcht. Wer ein Wochenende in Libertad verbracht hat, ist auch als Spieler kaum von den Emotionen seines Charakters verschont geblieben. Das Phänomen, wenn die gespielten Emotionen abfärben, nennt man Bleed. Daher waren auch die Workshops und am Ende einen Bleeding Partner zu finden, mit dem man sich nach dem Larp weiter austauschen und das Erlebte verarbeiten konnte, hilfreich, um Abschied von seinem Charakter zu nehmen.

Apropos Verarbeitung: die Propaganda-Truppe des Widerstands erstellte bereits während des Larps Filme und anderes Material. Nach dem Larp teilen die Spieler ihre Kreationen und lassen den Widerstand weiterleben … oder geben einen Eindruck vom Leben, das der Charakter, nachdem er in den Schoß der Gesellschaft zurückgekehrt ist, führt. Libertad ist gefallen. Aber die Stimme der Revolution lebt weiter in denen, die fliehen konnten und einen neuen Widerstand aufbauen werden. Und alle, die diese Erfahrung auch einmal erleben, die Hunger, Angst, Unterdrückung und die geballte Macht der Emotionen am eigenen Leib erfahren wollen, sollten sich das Orga-Team von Blue Flame mit der wunderbaren Esperanza Montero als Hauptkoordinator merken.

Text: Mary Borges
Bilder: Blue Flame Orga

 

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