Seit Anbeginn der Zeit haben die Götter das Schicksal der Welt mitbestimmt.
Ganze Königreiche und Völker wurden Opfer ihres grausamen Zorns oder wuchsen und gediehen im strahlenden Licht ihrer Weisheit. Wie auch immer ihre Absichten aussahen, so gab es doch immer Gläubige, die aus ihrem Wirken Kraft schöpften, ihrem Leben einen Sinn und ein Ziel geben konnten.
Mit den sechs großen Religionen entwickelten sich die Dogmen, Sagen und Glaubensstreitigkeiten um die Gestalten der Götter, die in vielen Ländern unter unterschiedlichen Namen bekannt sind – die am häufigsten gebrauchten sind Al-Machial, Arachne, Fardea, Malagash, Suavis, Ultor und Varkaz. Wer vermag heute noch zu sagen, wer Recht hat: der Ultorianer oder der Anhänger Al-Machials? Aber weil es im Reich der Götter keine endgültige Sicherheit oder Wahrheit gibt, nennt man es ja auch ...
den Glauben.
Aus: Phönix – Das Fantasy-Live-Rollenspiel-Regelwerk, S. 122
Im Live-Rollenspiel, wie auch in vielen anderen Bereichen der Fantasy, kann davon ausgegangen werden, dass das Göttliche generell erfahrbarer ist als in der Realität. Götter wirken persönlich, durch Dienerkreaturen oder ihre Priester in der Spielwelt, und jeder kann Zeuge eines Wunders werden.
Deswegen und wegen der komprimierten Form der Weltdarstellung auf einem LARP behelfen wir uns häufig mit dem Klischeehaften, nutzen etwa Götter-Archetypen aus der griechisch-römischen Mythologie. Entsprechend dieser Götterdarstellung vermenschlichen wir im Spiel Götterfiguren und unterstellen ihnen für uns leicht verständliche Handlungsmotive. Wir nennen sie ordnungsliebend oder herrschsüchtig, zerstörend oder heilend, so dass sie leicht fassbar werden.
So könnte der klassische Paladin einer Ordnungs-Gottheit folgen, die jene Ordnung mit der eisernen Faust durchsetzt. Aber was ist, wenn eine Ordnungsgottheit eben nicht so klassisch ist? Oder wenn Spieler unterschiedliche Vorstellungen von einer Ordnungsgottheit haben?
Hier kann es Erläuterungen durch Spieler geben, es könnten Texte und Hintergrundmaterialien mitgebracht werden oder auch Wunder könnten der staunenden Masse präsentiert werden, um Anhänger zu gewinnen. Aufgrund der hohen Unterschiedlichkeit von Religionen auf Live-Rollenspielen, bleibt Religion allerdings dennoch häufig ein gruppen- oder charakterinternes Konzept (das natürlich trotzdem seinen Reiz haben kann).
Alternative Ansätze
Spielsysteme, die einen geschlossenen Hintergrund vorgeben, gehen hierbei einen etwas anderen Weg und bieten dabei alternative Spielansätze, Beispiele sind etwa Systeme wie Warhammer-LARP oder DSA-LARP (Das Schwarze Auge). Als vorliegendes Beispiel soll aber das Phönix-System dienen.
Quintessenz dieses Systems ist eine einheitliche Welt, deren Geschichte sich auf allen Spielen fortentwickelt, die im Rahmen einer so genannten Carta von den Orgas durchgeführt werden. Es existiert eine Weltgeschichte, die seit über 15 Jahren aktiv bespielt wird. Eine Weltgeschichte, die sich in verschiedensten Facetten, durch Herkunft, Beruf und Werdegang, durch landestypische Sichtweisen (Wir sollen euch angegriffen haben? Da musst du etwas falsch verstanden haben!) und natürlich die persönliche Religiosität für jeden Charakteranders darstellt.
Hierbei werden das Erfahren der Gottheit, also das spielerisch-reale Wirken der Götter auf der Welt, und ein Rahmen kultureller Verehrung durch das Regelwerk und/oder die gemeinsame Weltgeschichte vorgegeben.
Praktisch bedeutet das in diesem Fall, dass das Pantheon von sieben Göttern mit eigenen Charakteristika und einige zentrale Glaubensgrundsätze jeder Religion vorgegeben sind. Die Götter decken dabei klassische Bereiche wie Nächstenliebe und Chaos aber auch besondere Konzepte wie schöpferische Veränderung oder einen Spinnen- und Blutkult ab.
Die (groben) Grundsätze sollten von Gläubigen und von Priestern, die regeltechnisch Wunder wirken wollen, befolgt werden. Im Falle der Phönix-Elementargottheit Fardea, der Wächterin des ewigen Kreislaufes, bedeutet dies beispielsweise:
- Der Priester muss alle Untoten oder Lebenden Toten wieder dem Kreislauf des Werdens und Vergehens zuführen, sie also vernichten.
- Der Priester darf niemals eine Wiederbelebung dulden, da diese ebenso den Kreislauf stören würde.
- Jede Macht, die den Kreislauf des Lebens stört, muss daran gehindert oder sogar vernichtet werden. Dabei kann es sich um den Priester einer Ordnungsgottheit ebenso handeln wie um einen Nekromanten.
Die Glaubensgrundsätze sind dabei offen gestaltet, so dass eine eigene freie Interpretation möglich wird, die dann den Unterschied bespielbar macht. Wie kaum anders zu erwarten, kommt es zum Beispiel bei der Deutung von Geschehnissen, heiligen Schriften und Erscheinungen durch Anhänger des Gerechtigkeitsgottes Ultor zu regelmäßigen spielerischen Auseinandersetzungen. Nicht zuletzt, da diese Religion als einzige eine feste Kirchenstruktur besitzt.
Und nicht wenige Anhänger eines der sieben Orden Ultors fragten sich, ob die Deutungen der heiligen Synode, einer Art Generalkonzil der ultorianischen Kirche, nicht inzwischen zu sehr weltlichen Gründen folgen. Um ein weiteres Beispiel zu nennen, kam es bei Fardeanern (s.o.) zu der Frage, ob ein Arzt bei einer Wiederbelebung „sündigt“, zu einem regelrechten Schisma (Spaltung oder Trennung). Hat er einen Toten wiederbelebt oder einem Sterbenden geholfen, im Kreislauf zu verbleiben?
War der Charakter tot oder nur am Rande des Todes und hatte die unsichtbare Linie noch nicht überschritten? Auf einem Spiel der Phönix-Kampagne tut man gut daran, den netten wunderlichen Druiden vorsichtig auf dessen Meinung zur Reanimation anzusprechen, bevor man ihn bittet, einem Arzt zu assistieren und womöglich eine böse Überraschung erlebt …
Ein Gerücht hat Vorteile
Was sich auf der einen Seite als eine Einschränkung der persönlichen, fantasievollen Entfaltung lesen könnte, bietet auf der anderen Seite viele Möglichkeiten. Zum einen bringen äußere Strukturen das Bekannte ins Fantastische. Das Gerüst ermöglicht es, schnell eine Einschätzung des Gegenübers vorzunehmen, ohne allzu lange Vorstellungsfloskeln, die für viele Spieler ermüdend sein können. Es ermöglicht, mit Klischees zu spielen anstatt sich von ihnen spielen lassen zu müssen, damit man für das Gegenüber in der Rolle greifbar wird.
Denn das dem Gegenüber bekannte Gerüst erklärt bereits viel. Es ermöglicht außerdem eine starke Auseinandersetzung mit spielspezifischen Motiven, die außerhalb der eigenen Person begründet sein können, ohne esoterisch werden zu müssen (Warum ich gegen das Böse bin? Na, weil es böse ist! ...). Außerdem ermöglicht der Hintergrund problemlos Konzeptspiele ohne unverhältnismäßig viel Zusatzaufwand leisten zu müssen.
Religiöses Vorwissen ist in solchen Konzepten bedingt nötig. Aber trotz des Hintergrundreichtums ist in der Phönix-Welt Platz für viele weitere Facetten und eigene Deutungen, so dass eine Kenntnis der grundlegenden Hintergrundinformationen des Regelwerkes vollkommen ausreichend ist. Ein kurzer Kontakt mit der jeweiligen Orga kann für Neueinsteiger zusätzliche Rollensicherheit bieten.
Vertiefende Informationen zu den verschiedenen Glaubensrichtungen sind auf den Spielen selbst häufig präsent oder liegen im Internet vor. Dies kann bedeuten, dass man als Systemeinsteiger Schwierigkeiten haben könnte, einen Oberpriester zu spielen, ohne mit anderen Priestern in Konflikt zu geraten, die in diesem System erfahrener sind.
In der Regel sind diese Konflikte aber spielintern und somit sogar teils gewollt. Man bedenke dabei die vielen verschiedenen Ausprägungen realer Religionen oder des gespielten Ceridentums. Wenn es einem Priester gelingen sollte, seine Schäfchen hinter sich zu einen, stellt er auf jedem einzelnen Spiel und häufig sogar in der Weltgeschichte eine nicht zu verachtende Macht da. Und wer mit der Religion auch im Spiel so gar nichts anfangen kann, dem bleibt in den Welten der Phönix-Carta, wie auch in allen anderen LARP-Systemen, die Möglichkeit, Atheist zu werden. Man sollte nur nicht vergessen, dass Götter im Spiel dem Ungläubigen viel näher kommen, als ihm lieb sein könnte.
Text: Michael Schurig
Dieser Artikel ist erschienen bei:
LARPzeit.de